AERZTE Steiermark | April 2019

Ærzte Steiermark  || 04|2019 19 impfen wichtung zwischen den beiden Themen? Böhm: Der individuelle Nut- zen ist oftmals das zentrale Argument für eine Impfung. Allerdings zeigt unsere For- schung, dass es nicht das einzige Argument sein sollte. Der Gemeinschaftsschutz, der vor allem für Personen wichtig ist, die sich nicht selbst impfen lassen können (z. B. sehr kleine Babys), ist ein wichtiges zusätzliches Argument. Die Impf bereit- schaft steigt, wenn der soziale Nutzen durch den Gemein- schaftsschutz zusätzlich zum individuellen Nutzen kom- muniziert wird. Unsere Forschung legt also nahe, dass beide Informatio- nen – sowohl der individuelle als auch der soziale Nutzen von Impfungen – in verständ- licher Art und Weise bereitge- stellt werden sollten. Masernausbrüche wie 2015 in Deutschland oder jetzt ak- tuell in Österreich führen zu heftigen öffentlichen Debatten über zusätzliche Maßnahmen. Führen diese Debatten zu nachhaltigen Aktivitäten oder verpuffen sie eher wieder? Böhm: Ich habe das Gefühl, dass man sich inzwischen bewusst ist, dass nicht die Impfgegner das Hauptpro- blem sind, sondern dass sich das Gesundheitssystem „be- wegen“ muss. Es gibt verein- te Aktivitäten von verschie- denen Seiten, um nachhaltig hohe Impfraten zu erzielen, auch ohne Impfpflicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die überwiegende Mehr- heit der Menschen bereit ist, sich gegen gefährliche Infektionskrankheiten durch entsprechende Impfungen zu schützen, sofern ihnen der Nutzen von Impfungen rich- tig erklärt und das Impfen leicht gemacht wird. Dr. Robert Böhm ist Psycho- loge und hat seit 2013 die Juniorprofessur für Decision Analysis an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der RWTH Aachen inne. „Müdigkeit“ kein passender Begriff DieWeltgesundheitsorganisation spricht von Impfmüdigkeit (VaccineHesitancy), um unzureichende Impfquoten zu erklären. Ein Team von Forscherinnen und Forschern der Universitäten Erfurt und Aachen sind den Ursachen in Deutsch- land auf den Grund gegangen. Sie fordern, nicht von „Impfmüdigkeit“, sondern schlicht von den Determinanten des (Nicht-)Impfens zu sprechen, weil sich das Verabsäumen von Impfungen nicht nur durch „Hesitancy“ (Unschlüssigkeit), also ein psychologisches Zögern, erklären lässt. 5 C entscheiden demnach über das Impfen: Confidence (Vertrauen) in die Si- cherheit von Impfungen, Complacency (Wahrnehmung des Krankheitsrisikos), Constraints oder Convenience (Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand), Calculation (Nutzen-Risiko-Abwägung) sowie Collective Responsibility (Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft). Fazit der Studie: „Impfverhalten hängt von vielen Faktoren ab und Daten zeigen, dass nicht nur das Vertrauen in Impfungen ein wichtiger Aspekt ist, sondern dass auch in Deutschland praktische Barrieren abgebaut werden müssen.“ Gleichzei- tig sollten die psychologischen Gründe des (Nicht-)Impfens weiterhin regelmäßig erfasst und die Daten zur Veränderung politischer Rahmenbedingungen sowie für die Entwicklung zielgruppenspezifischer Kampagnen genutzt werden. Was die Forscherinnen und Forscher (Cornelia Betsch, Philipp Schmid, Lars Korn, Lisa Steinmeyer, Dorothee Heinemeier, Sarah Eitze, Nora Katharina Küp- ke, Robert Böhm) damit wollen: die Entwicklung langfristig evidenzbasierter Strategien. Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse sollten in die Gestaltung dieser In- terventionen einbezogen werden, um effektive Ansätze zu identifizieren, eine eigenständige Impfentscheidung im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft zu unterstützen. (Impfverhalten psychologisch erklären, messen und verändern, in: Bundesgesund- heitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, Februar 2019) Confidence Constraints Complacency Collective Responsibility Calculation „Ich habe das Gefühl, dass man sich inzwischen bewusst ist, dass nicht die Impfgegner das Hauptproblem sind, sondern dass sich das Gesund­ heitssystem ‚bewegen‘ muss.“ „Ich bin fest davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen bereit ist, sich gegen gefährliche Infektionskrankheiten durch … Impfungen zu schützen.“

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