AERZTE Steiermark | Oktober 2019

ÆRZTE Steiermark  || 10|2019 55 NIEDERGELASSENE ÄRZTINNEN UND ÄRZTE Was Menschen mit Behinderung nicht wollen Menschen mit Behinderung wollen eben nicht gehoben werden. Sie wollen auch nicht durch den Hintereingang ge- hen müssen oder hoffen, dass bei einem Klingelknopf je- mand nach draußen kommt. Sie wollen die Praxis ihrer Wahl und in ihrer Nähe auf- suchen können und nicht zu der einen Praxis fahren müssen, die barrierefrei ist. Kurz gesagt: Menschen mit Behinderung wollen Dienst- leistungen genau wie alle anderen Menschen einfach nutzen und nicht Objekt von gutgemeinten Hilfen und Nettigkeit sein. Ein moderner Betrieb Barrierefreiheit zeigt auf den ersten Blick, wie kundenorien- tiert und modern ein Betrieb ist. Barrierefreiheit ist nicht nur eine gesetzliche Verpflich- tung, sondern ein Statement, wie auf KundInnen reagiert wird. Gerade bei Dienstleis­ tungen, die für kranke Men- schen angeboten werden, muss Barrierefreiheit eine Grundvo- raussetzung sein. Rückmeldungen von Men- schen mit Behinderung, dass sie schlecht behandelt wur- den, gibt es genug. Das liegt aber nicht an einer ablehnen- den Haltung von Ärztinnen und Ärzten, sondern so gut wie immer an Unwissen. Um die eigene Praxis barriere­ frei zu gestalten, braucht es daher immer die Hilfe von Ex- pertInnen. Achtung: Oft wer- den mit gutem Vorsatz Geld und Mühen investiert und das Ergebnis ist überhaupt nicht im Sinne der Betroffenen. ExpertInnen weisen auf Din- ge hin, an die man selbst nicht denkt: Wie tief muss ein Spiegel hängen, damit sich auch ein/e RollstuhlfahrerIn darin sehen kann? Wie in- stalliert man eine induktive Höranlage? Wie schwierig sind Formulare für Menschen mit Lernschwierigkeiten aus- zufüllen? Zu Menschen mit Behinde- rung zählen nicht nur Men- schen mit Geheinschrän- kungen, sondern auch blinde und sehbehinderte, gehörlose und schwerhörige Personen und auch Menschen mit Lern- behinderung. Hier ist es ohne Hilfe oft nicht möglich zu definieren, was Barrierefrei- heit für diese KundInnen bedeutet. Richtiger Umgang mit Menschen mit Behinderung Wir alle sind überzeugt, dass wir sensibel und achtsam sind. Die wenigsten von uns sind es wirklich. Sensibel kann man nur sein, wenn man überhaupt weiß, was der andere braucht oder was ihn verletzt. Gerade bei Menschen mit Behinderung fehlt uns dieses Wissen. Die Grundregel: Für alle Menschen mit Behinderung gilt, dass man in einen gu- ten Kontakt tritt und Fragen stellt. Für Menschen im Rollstuhl gilt vor allem, dass man nicht einfach anpackt und an- schiebt oder den Menschen hebt. Viele Rollstuhlfahrer­ Innen wurden schon einmal aus dem Rollstuhl geworfen oder haben sich verletzt. Hier gibt es große Ängste und Traumata. Deshalb gilt: Im- mer zuerst fragen, ob und wie man helfen soll. Ein Ge- spräch sollte man immer auf Augenhöhe führen, also nicht von oben herab, sondern sich hinsetzen und auf Augenhöhe reden. Das Gleiche gilt bei blinden Personen: sich vorstellen, in Ruhe einen Arm anbieten, langsam führen und genau erklären, was man tut, vor allem bevor man die Person berührt. Eine Gruppe, die besonderes Augenmerk braucht, sind Menschen mit Lernschwierig- keiten: Erwachsene Menschen wollen mit Sie angesprochen werden, wie jede/r andere auch. Auch wenn Menschen Betreuung brauchen, soll man mit dem Menschen selbst sprechen und nicht „über sie“ mit der Betreuungsperson. Manche Menschen mit Lern- schwierigkeiten (oder wie man früher sagte: Menschen mit geistiger Behinderung) oder Personen mit psychi- schen Erkrankungen brau- chen einen ganz anderen Um- gang: Man muss sich mehr Zeit nehmen, genauer und wiederholt erklären, Vor- gänge genau aufschlüsseln. Fremdwörter werden oft nicht verstanden. Es muss ganz genau erklärt werden, wie und wann Medikamente zu nehmen sind. Am besten gibt man einen einfachen, schrift- lichen Plan mit. Bei schwerhörigen oder ge- hörlosen Personen soll man nicht das Gesicht abwenden oder verdecken (Lippenlesen). Man soll deutlich sprechen und kurze Sätze verwenden. Man soll auch nicht mit dem Gebärdendolmetscher spre- chen, sondern sich immer an die/den KundIn richten. Manche Menschen mit psy- chischen Erk rankungen können herausfordernd oder übergriffig sein. Hier gilt es, dennoch freundlich und klar zu sein und die Hilfeleistung dennoch anzubieten. Man muss wissen, dass manche Unhöf lichkeiten Teil einer Erkrankung sein können. An Menschen mit besonderen Bedarfen kann man die eige- ne Menschen- und Kunden- orientierung und die Qualität der eigenen Dienstleistung messen und verbessern. Hier gibt es für uns alle sehr viel zu lernen. Hier finden Sie weitere In- formationen über einen sen- siblen Umgang mit Menschen mit Behinderung: http://www.unitedspinal.org/ disability-etiquette/ Mag. Wolfgang Palle ist Be- auftragter der Stadt Graz für Menschen mit Behinderung. Er ist studierter Jurist und hat das Sonderschul-Lehramt erworben. Kontakt: Herrengasse 3 / 1. Stock 8010 Graz Tel. +43 650 6692 650 E-Mail: behindertenbeauf- tragter.graz@gmx.at „Für alle Menschen mit Behinderung gilt, dass man in einen guten Kontakt tritt und Fragen stellt.“

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