AERZTE Steiermark | Oktober 2019
BEREICH ÆRZTE Steiermark || 10|2019 7 Es wird zuviel diagnostiziert und therapiert. Public-Health- Experten sagen das genauso wie bedachtsame, den Menschen zugewandte Ärztinnen und Ärzte. Das Thema hat die diesjährige steirische Gesundheitskonferenz bestimmt, es ist auch Gegen- stand eines neuen Buches, in dem erfahrene Intensiv- und Al- tersmediziner zu Wort kommen. Also gibt es keine Gegensätze? Leider doch. Denn die Public- Health-Fachleute und andere, die sich vor allem mit Planung befassen, machen die Ärztinnen und Ärzte für das Zuviel ver- antwortlich: Sollen sie den Pati- entinnen und Patienten halt das MR und die riskante OP im hohen Alter verweigern. Wer aber in der Ambulanz, am Krankenbett oder in der Praxis steht, weiß, dass das nicht so einfach ist: Viel Einfühlungsver- mögen, Geduld und vor allem Zeit sind nötig, um Menschen davon zu überzeugen, dass eine bestimmte Behandlung ihr Leben nicht mehr besser macht. Denn wir sagen ihnen damit, dass sie nicht mehr völlig gesund und leistungsfähig werden, dass sie sich mit Defiziten arrangieren müssen. Das ist weder für die Betroffenen noch für deren Ange- hörige, die „das Beste wollen“, eine gute Nachricht. Um die Empörung über die Verweigerung erst gar nicht aufkom- men zu lassen, ist es der leichtere Weg, das teure Diagnose-Ver- fahren und den aufwendigen Eingriff nicht zu verweigern. Vor allem – und darum geht es oft – es ist der schnellere Weg. Und: Zeit zählt. Immer weniger Ärztinnen und Ärzte, immer mehr Patientinnen und Patienten … die nächsten warten schon. Also liebe Planerinnen und Planer, liebe Public-Health-Fachleute, liebe Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker: Packt Eure Stoppuhren ein, spart nicht an den Ärztinnen und Ärzten, gebt ihnen die Zeit (zurück), die sie brauchen, um mit den Patientinnen und Patienten sprechen zu können, auch lange, wenn es sein muss. Und glaubt eines nicht: dass Algorithmen diese abwägenden Ge- spräche führen. Sie können nur gnadenlos verweigern. Dr. Herwig Lindner ist Präsident der Ärztekammer Steiermark. Fotos: Adobe Stock, Oliver Wolf, Elke Meister, Harry Schiffer, Grafik: Konrad Lindner Es gibt in diesem Land „Primärversorgung“ in großem Umfang. Die jüngsten zwei „Primärver- sorgungseinheiten“, im steirischen Politdeutsch „Gesundheitszentren“ genannt, zeigen die Band- breite der Möglichkeiten. Da gibt es die Lang- zeitgruppenpraxis, die durch einen Primärver- sorgungsvertrag jetzt eine Art „Upgrade“ erfährt. Da gibt es die völlig neue Gruppenpraxis zweier junger Kolleginnen. Faktum ist aber, dass es auch viele Primärversor- gungsstrukturen in diesem Land gibt, die her vorragende Arbeit leisten, aber nicht als „Primär- versorgungseinheit“ anerkannt und daher auch nicht mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet wer- den und nicht die Etikette „Primärversorgungs einheit/Gesundheitszentrum“ tragen dürfen. Dafür ist man andernorts großzügig und ver- gibt dieses Label, auch wenn die Strukturen nur unzureichend den gesetzlichen Anforderungen genügen. Aber: Bis zum kommenden Jahr soll es elf, bis 2025 laut RSG sogar 30 dieser „Primärversor- gungseinheiten“ geben. Damit das gelingen kann, muss die „Top-down“-Haltung der Planenden einer „Bottom-up“-Haltung weichen. Die engagierten Ärztinnen und Ärzte dürfen sich nicht durch planerische Rechthaberei vor den Kopf gestoßen fühlen. Sie wollen – sie müssen aber auch dürfen können. Das ist aber nur möglich, wenn die politisch Verantwortlichen lernen loszulassen und Viel- falt zuzulassen. Das ist nicht einfach. Es ist ein Machtausübungsverzicht. Gleichzeitig ist es aber auch ein Ausdruck von Anerkennung für die vor- handenen Bemühungen. Und gelobt wird die Politik letztlich ja doch: Für ein Funktionieren, das sie zulässt. Für ein Schei- tern, das sie verursacht, gibt es kein Lob. Vizepräsident Dr. Norbert Meindl ist Obmann der Kurie Niedergelassene Ärzte. EXTRA Norbert Meindl Die Politik muss los- und zulassen STANDORTBESTIMMUNG Herwig Lindner Blame the system, nicht: Blame the doctor! D BATTE
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