AERZTE Steiermark | September 2020
14 ÆRZTE Steiermark || 09|2020 WISSENSCHAFT Versorgung von Grippeerkrankten im Walter Reed Hospital, Washington, D.C., 1918/1919 Wertlose Forschung und ge- fährliches Pseudowissen be- schäftigen die medizinische Wissenschaft seit langem – dennoch breitet sich der Markt für deren Verbreitung anscheinend ungehindert aus. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Me- dizinischen Fachgesellschaf- ten e.V. (AWMF), in der an die 200 Fachgesellschaften Mitglieder sind, sieht darin eine reale Bedrohung für die Durchdringung von Wissen aus der seriösen Wissenschaft in die Öffentlichkeit und, in Konsequenz, eine Bedrohung für die Gesundheit von Pati- entInnen und BürgerInnen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizi- nischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) setzt auf Ge- genmittel wie das Paradigma der evidenzbasierten Medizin, internationale Initiativen zur Förderung der Qualität me- dizinischer Forschung, auf die Leitlinien ihrer aktuell 178 Mitgliedsgesellschaften als qualitätsgesicherte Infor- mation und auf die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Die Diskussion um die in der medizinischen Wissen- schaft und in der Öffentlich- keit schon seit vielen Jahren kritisch verfolgte Verbreitung von Pseudowissen hat schon vor einigen Jahren eine neue Dimension erreicht. Auslö- ser ist die zunehmende Aus- breitung einer akademischen Scheinwelt – getrieben durch sogenannte „Raubverlage“, „Pseudojournale“ und „Pseu- dokongresse“, die Wissen- schaftlichkeit vorgeben, je- doch die Grundprinzipien der Wissenschaftlichkeit zu- gunsten rein wirtschaftlicher Interessen fundamental miss- achten. Die AWMF ruft daher zu mehr Problembewusstsein auf. „Die medizinische Wis- senschaft muss sich verstärkt für die Prävention, Identifi- kation und Kennzeichnung von wertloser eindeutig inte- ressengeleiteter oder pseudo- wissenschaftlicher Forschung einsetzen, um nachteilige Fol- gen für die medizinische Ver- sorgung und für individuelle Patienten zu verhindern“, for- dert der Gynäkologe Profes- sor Rolf Kreienberg, Präsident der AWMF und Vorstands- mitglied im Wissenschaft- lichen Beirat der deutschen Bundesärztekammer. Bessere Wissenschaft „Hierfür eignen sich Instru- mente, die auf unterschied- lichen Ebenen ansetzen“, er- gänzt der Internist Professor Christoph Herrmann-Lingen, Vorsitzender der Kommissi- on Forschung und Lehre der AWMF sowie Direktor der Abteilung für Psychosoma- tische Medizin und Psycho- therapie der Universitätsme- dizin Göttingen. Dazu gehö- ren die obligate Registrierung Unentwegt gegen Pseudowissen Die Corona-Zeit ist nicht die Ursache für obskures Pseudowissen. Sie hat die Verbreitung aber befeuert. Die deutsche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) kämpft schon seit Jahren dagegen an. klinischer Studien, die Trans- parenz von Interessenkon- flikten, Regeln für transpa- rente Publikationsprozesse einschließlich eines defi- nierten Begutachtungsver- fahrens („peer review“) und die kostenfreie Verfügbarkeit wissenschaftlich hochwertiger Publikationen („open access“). open access: Licht und Schatten Die grundsätzlich zu begrü- ßende open access-Bewegung hat in den letzten Jahren aber auch zu den gravierenden Fehlentwicklungen beigetra- gen, die in den Fokus der Diskussion getreten sind: Im open access-Modell müssen die Autoren eine Gebühr für die Produktionskosten ihrer Publikationen entrichten, da die Verlage keine Einnahmen daraus zu erwarten haben. Das heißt aber auch, Verlage nehmen umso mehr Geld ein, je mehr Publikationen sie ak- zeptieren und je geringer sie die Kosten halten. Dies bietet den Geschäftsraum für pseu- dowissenschaftliche Verlage und Publikationsplattformen. Mit wohlklingenden Titeln täuschen diese Seriosität vor und werben in Massen-E- Mails mit dem Versprechen rascher und unkomplizierter Manuskriptbearbeitung um WissenschaftlerInnen. Die Manuskripte werden dann ohne ausreichende Qualitäts- kontrolle gegen Zahlung einer durch die so erzielte Einspa- rung von Produktionskosten oft vergleichsweise niedrigen Gebühr veröffentlicht. Zur Fehlentwicklung tragen auch Fehlanreize der Forschungs- steuerung bei, die vielfach noch zu einseitig quantitative Bewertungsmaßstäbe setzt (wie z. B. die reine Zahl an- stelle der wissenschaftlichen Qualität von Publikationen oder die Summe verausgabter Drittmittel anstelle ihres sinnvollen Einsatzes), mahnt Professor Herrmann-Lingen. „Der Druck, vor allem viel zu publizieren, („publish or perish“, also publizieren oder untergehen) kann womöglich auch zu explizitem wissen- schaftlichem Fehlverhalten bis hin zur Publikation ge- fälschter Ergebnisse („fake science“) verleiten.“ Die AWMF fordert daher die konsequente Prüfung der Einhaltung international konsentierter Gütekriterien medizinischer Forschung. Nach den Empfehlungen der AWMF sollten nur solche Publikationen als Qualitäts- nachweis anerkannt werden, die in Publikationsorganen erscheinen, die entweder in etablierten Verzeichnissen seriöser Fachzeitschriften ge- listet oder von wissenschaft- lichen Fachgesellschaften auf der Basis transparenter Kri- terien als qualitätsgesicherte Publikationsorgane im jewei- ligen Fachgebiet anerkannt sind. Die AWMF führt eine
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