AERZTE Steiermark | Oktober 2020
32 ÆRZTE Steiermark || 10|2020 ETHIK Eiliges Buch zur Pandemie Voller Optimismus gaben ein Intensivmediziner und MUG- Professor, ein Uni-Lecturer für Ethik, ein Studienleiter für Ange- wandte Ethik und ein emeritierter Professor für Moraltheologie, alle vier in Graz tätig, ein Buch über die Corona-Pandemie heraus. Strategien –, zahlreiche Bei- träge stammen jedoch von heimischen Ärztinnen und Ärzten, TheologInnen sowie PraktikerInnen aus den Be- reichen Krankenhausseelsor- ge und Pflege. Insgesamt ha- ben sich 40 Expertinnen und Experten daran beteiligt. Ihnen allen ist der Anspruch gemeinsam, Lehren für die Zukunft zu ziehen, um besser vorbereitet in eine ähnliche Krise zu gehen. Dass die Krise in Wahrheit noch nicht vorbei war und die Infiziertenzahlen bereits zur Erscheinung des Werkes wieder deutlich in die Höhe gehen würden, haben die Autorinnen und Autoren offenbar nicht erwartet. Schreckgespenst Triage Mehrere Beiträge widmen sich (unter anderem) der Tri- ageproblematik. Während der Südtiroler Intensivme- diziner Franz Ploner dazu rät, gerade bei Risikogruppen frühzeitig den Patientenwil- len abzuklären (wohl um die Intensivbetten den weniger Gefährdeten vorzubehal- ten), berichtet der Wiener Medizinethiker Stefan Dinges durchaus kritisch davon, dass alte Menschen verstärkt mit dem Thema Patientenverfü- gung konfrontiert worden seien. Der italienische Ärztekam- merpräsident Filippo Anelli, zitiert im Beitrag des Brixener Mora lt heologen Ma r t i n Lintner, hatte von einer „in- akzteptablen Kriegstriage“ ge- sprochen, als es auf dem ers „Nun scheint ja die Krise langsam wieder vorbei zu sein …“. Mit diesen Worten leitete der Anästhesist und Inten- sivmediziner sowie MUG- Professor Wolfgang Kröll im Interview eine Frage an den Ärztlichen Direktor des Gra- zer LKH-Universitätsklini- kums, Wolfgang Köle, ein. Heute wissen wir: Der früh- sommerliche Optimismus, die COVID-19-Pandemie über- standen zu haben, war voreilig. Doch genauso wenig wie die AutorInnen des 448-Seiten- Werkes zum Zeitpunkt dessen Entstehens in die Zukunft bli- cken konnten, können wir es nun. Erschienen ist der Sam- melband am 14. August; die aktuellsten darin verarbeiteten statistischen Daten stammen von Ende Mai. Steirische Reflexionen Dass sich unter den Herausge- bern drei Theologen befinden, spiegelt sich, insbesondere in den Abschnitten „Vulne- rabilität und Spiritual Care“ sowie „Religiöse Perspekti- ven“, deutlich wider. Doch es kommen auch Ärztinnen und Ärzte darin zu Wort, ebenso wie JuristInnen und ExpertInnen aus dem Bereich der Pflege. Aus steirischer Sicht punktet das 26 Beiträge umfassende Werk mit einer deutlichen regionalen Veran- kerung. Zwar schildern auch deutsche, Schweizer und Süd- tiroler Mitautoren und -auto- rinnen die Situation in ihrer Heimat – und die im Umgang mit COVID-19 entwickelten ten Hö- hepun k t der Krise in Nord i t a l i e n d a r u m g i n g , Kriterien für die Ver- gabe von Intensivbetten zu entwickeln. Der Grazer In- tensivmediziner und einer der Herausgeber Wolfgang Kröll kritisiert, die Triage sei den Menschen als „Schreck- gespenst“ vor Augen gehalten worden, während sie in der Realität auch in Vor-Corona- Zeiten im klinischen Alltag bei der Entscheidung über die Vergabe von Intensiv- betten stets üblich gewesen sei. Die Information an die Bevölkerung, es werde auch in Österreich bei anhaltender Pandemie zu einem Engpass von Spitalsbetten und daher notwendigerweise zur Tria- ge kommen, kommentiert er ziemlich unverblümt: „(D) erartige Aussagen gleichen politischem Schwachsinn und bewirken nur eines: steigende Angst in der Bevölkerung.“ Luxus Ethikberatung? Sehr divers wurde in der ersten Welle der Pandemie die klinische Ethikberatung eingesetzt: Auch hier reichen die Einschätzungen vom hilf- reichen Werkzeug, um „die Entscheidungslast auf meh- rere Schultern zu verteilen“, wie es in der Stellungnahme der Österreichischen Bio ethikkommission heißt, und Positivbeispielen bewusster Nutzung dieser Expertise aus Kliniken bis hin zur Erwähnung von Kran- kenanstalten, in denen aufgrund der Krise das Klinische Ethikkomi- tee sowie die Ethikbera- tung ausgeschaltet wur- den und die Entschei- dungsmacht zur Gänze in der Klinikleitung konzentriert wurde. Zu denken geben Berichte aus Alten- und Pflegeheimen, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner als beson- ders Vulnerable extrem unter jenen Maßnahmen gelitten haben, die eigentlich ihrem eigenen Schutz dienen sollten. Das medizinische Personal berichtet von dramatischen kognitiven Verlusten inner- halb kurzer Zeit und von Ankündigungen der Bewoh- nerinnen und Bewohner, lie- ber an COVID-19 zu sterben, als die Angehörigen nicht mehr treffen zu können. Auch dieser Aspekt wird bei der Adaptierung von COVID- 19-Strategien stets zu berück- sichtigen sein. Kröll, Wolfgang; Platzer, Jo- hann; Ruckenbauer, Hans- Walter; Schaupp, Walter: Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theolo- gische Reflexionen einer Krise. Erschienen in der Reihe „Bio ethik in Wissenschaft und Gesellschaft“. Baden-Baden, Nomos 2020. Derzeit nicht lieferbar, dafür kostenloser pdf-Download unter https:// www.nomos-shop.de/titel/die- corona-pandemie-id-89396/ Die Corona-Pandemie Ethische,gesellschaftlicheund theologische ReflexioneneinerKrise Kröll |Platzer |Ruckenbauer |Schaupp [Hrsg.] Bioethik inWissenschaftundGesellschaft l 10 https://doi.org/10.5771/9783748910589 ,am 02.09.2020,14:37:42 OpenAccess - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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