AERZTE Steiermark | November 2020

6 ÆRZTE Steiermark  || 11|2020 BEREICH Eiko Meister Es geht um Menschen, nicht um Betten Warum funktioniert ein Krankenhaus? Nicht wegen seiner Betten, nicht wegen seiner Tech- nik. Die sind zwar auch notwendig, aber immer irgendwie beschaffbar. Dazu braucht es nur ein bisschen Geld. Tatsächlich funktioniert ein Krankenhaus wegen seiner Menschen . Die hochkompetente Ärztin und der besonders empathische Pfleger machen die Qualität aus, nicht das mehr oder minder bequeme Bett. Daher muss Planung auch immer von den Menschen ausgehen. Zumal es die nicht einfach zu kaufen gibt. Und der Weg zu ihren spezifischen Fähigkeiten ist sehr lang und hoch- komplex. Es wäre also dringend notwendig, dass auch die Landeskrankenanstaltengesellschaft statt in Bet- tenkapazitäten zu denken, explizit in Menschen plant. Ja, ich weiß schon: Die Verantwortlichen für kleine Einheiten vor Ort tun das schon. Sie wissen nämlich, dass ein Intensivbett ohne In- tensivmediziner und ohne Intensivpflege keinen Nutzen für den Intensivpatienten hat. „Dann behandelt euch halt selbst“ war einmal der Slogan deutscher Medizinerproteste gegen Per- sonalausdünnung. In der derzeitigen Situation ist nicht die Zeit für flapsige Proteste, schon klar. Es wäre aber vielleicht sinnvoll auf die Frage, wie viele verfügbare Betten es denn gäbe, auch zu ant- worten wie viele verfügbare Ärztinnen und Ärzte bzw. Pflegepersonen es gibt. Vielleicht würde es dann auch den zentral Pla- nenden bewusst, dass sie die falschen Planungs- grundlagen verwenden. Denn ein Bett lässt sich in wenigen Tagen beschaffen, ein Zubau ist in wenigen Monaten aufstellbar. Aber ein exzellenter Oberarzt, der fehlt, kann erst in zehn oder mehr Jahren „produziert“ werden. Vizepräsident Dr. Eiko Meister ist Obmann der Kurie Angestellte Ärzte. INTRA KONT A Der Schweizer Medizinethiker hat diese Gedanken in der Schweizer Ärztezeitung Nr. 47 veröffentlicht. Es gibt … auch versöhnliche Gedanken zu diesem Paradig- menwechsel. Erstens müssen wir anerkennen, dass unter- schiedliche Menschen unterschiedliche Werte haben. Das muss nicht schlecht sein. Zweitens ist es durchaus möglich, Schwarz und Weiß zu einem schönen Grau zu mischen. Es gibt also auch Wege, die Selbstbestimmung zu würdigen und trotzdem solidarisch zu handeln. Und drittens, und hier können wir uns lose des wohl bekanntesten Philosophen der Aufklärung bedienen, Immanuel Kant (1724–1804), der wohl sagen würde: „Freiheit“ bedeutet nicht, Rechte zu haben, son- dern dass man Pflichten hat. Gerade dieser Gedanke Kants bringt uns zu einem neuen Paradigmenwechsel. Vielleicht leben wir imMoment tatsächlich in einer Zeit, in der wir über unsere humanitären Pflichten nachdenken sollten, anstatt nur Persönlichkeitsrechte einzufordern. Ich zumindest emp- finde dies als eine versöhnliche Aufforderung und Idee. Und auch meine Disziplin der Medizinethik wird sich die- sem Paradigmenwechsel stellen müssen. Das vorrangige medizinethische Prinzip der Patientenautonomie tritt aktuell etwas in den Hintergrund gegenüber dem Public Health-Gedanken. Gut so, denn das wird auch unsere Dis- ziplin noch mehr dazu zwingen, intensiver darüber nach- zudenken, wie scheinbar konkurrierende Wertesysteme parallel existieren und funktionieren können. Wir werden weiterhin den Respekt vor der Patientenautonomie als ex- trem wichtigen Wert sehen, aber vielleicht nicht mehr als den immer und allein vorrangigen. Und auch der Wert der Solidarität könnte endlich stär- keren Einzug ins medizinethische Denken halten. Viel- versprechende Denkanstöße und Vorarbeiten dazu gibt es schon. Vielleicht werden wir sogar den Disziplinbegriff ändern müssen; vielleicht ist es an der Zeit, den etwas en- gen Begriff der „Medizinethik“ zu einer größer denkenden „Health Care Ethics“ zu erweitern. Prof. Dr. Rouven Porz ist Leiter des Bereichs Medizinethik und ärztliche Weiterbildung, Insel Gruppe, Inselspital Bern, sowie Mitglied der Redaktion Ethik der Schweizer Ärztezeitung. Den vollständigen Text finden Sie hier: saez.ch/article/doi/saez.2020.19345   2 D BATTE Rouven Porz Paradigmenwechsel der Werte

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