AERZTE Steiermark | Jänner 2021
COVER 10 ÆRZTE Steiermark || 01|2021 aufgrund einer oft Jahre zu- rückliegenden Willenserklä- rung euthanasiert werden können, obwohl niemand weiß, ob sie ihre Meinung inzwischen nicht geändert haben. Und demnächst wird es, das lässt sich bereits heu- te vorhersehen, eine dritte Grauzone geben. Nämlich? Wenn wir heute Demenzpa- tienten euthanasieren, nur weil sie Jahre zuvor eine ent- sprechende Willenserklärung abgegeben haben, um sie von ihrem Leiden zu erlösen, wa- rum sollten wir diesen „Segen“ dann Menschen vorenthalten, die so „dumm“ waren, keine Willenserklärung zu verfas- sen? Ich sehe voraus, dass demnächst Menschen auf den Plan treten werden, die sagen, das sei eine Rechtsungleich- heit. Man wird argumentie- ren, es sei ungerecht, wenn nur die sterben dürfen, die rechtzeitig eine Willenserklä- rung abgegeben haben. Aus der „Tötung auf Verlan- gen“ würde also die „Tötung ohne Verlangen“? Ja. Und damit wären wir dann beim Gnadentod. Schafft sich also das Angebot die Nachfrage? Durch die Aufhebung des Ta- bus der aktiven Sterbehilfe ist es im Schaufenster gelandet. Und zwar nicht nur bei der Allgemeinheit, sondern auch bei den vehementen Befür- wortern, den „Right-to-die- societys“ der verschiedenen Länder. Die „Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde“ (dt.: „Nieder- ländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende“, NVVE) etwa hat mittlerweile rund 180.000 Mitglieder und verfügt über reiche Ressour- cen. Diese erlauben es ihr, die Euthanasie als die würdigste Art zu sterben darzustellen. Ich habe beobachtet, dass sich die „Right-to-die-so cietys“ anfangs zurückhalten und froh sind, wenn Verbote aufgehoben und die Gesetz- gebungen liberalisiert werden. Aber sobald eine Hürde ge- nommen wurde, erheben sie die nächste Forderung. Das bedeutet, diese Vereinigun- gen werden darauf drängen, dass alle Gruppen, die derzeit noch von der Euthanasie aus- genommen sind, diese künf- tig auch erhalten werden. Ein häufig gebrauchtes Argu- ment lautet, mit der Libera- lisierung des ärztlich assis- tierten Suizids oder auch der Tötung auf Verlangen ließen sich nicht frei verantwortete Suizide verhindern. Trifft dies in den Niederlanden zu? In Einzelfällen ja. Ich selbst kenne einen Fall, in dem ein Patient darauf verzichtet hat, sich gewalttätig umzubringen, weil es ein professionelles An- gebot gab. Sieht man sich das allerdings breiter an, dann sieht die Sache doch anders aus. Nämlich wie? Das Angebot der professio- nellen Tötung von Verzwei- felten ist kein Signal der Hoff- nung für die Betroffenen, son- dern der Beleg dafür, dass sie von der Gesellschaft aufgege- ben wurden. Allerdings muss man auch sagen, dass sich viele Ärzte bislang weigern, psychiatrische Patienten zu euthanasieren. Selbst die Le- bensendeklinik in Den Haag weist 90 Prozent der psychiat- rischen Patienten zurück. Die gehen aber nicht jauchzend nach Hause, weil ihnen die „Das Angebot der professionellen Tötung von Verzweifelten ist kein Signal der Hoffnung …“ MARTIN NOVAK Von „Sterbehilfe“ zu sprechen, ist eine Beschönigung. Denn es geht um „Tötung“ oder Hilfe zur Tötung. Nun hat der österreichische Verfassungs- gerichtshof die Aufhebung bzw. Änderung des Para- grafen 78 „Mitwirkung am Selbstmord“ im Strafgesetz- buch verlangt. Darin heißt es: „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Gleichzeitig hat der VfGH dem Gesetzgeber ein Jahr Zeit gegeben, den Paragrafen zu „reparieren“. krankter, eines Mannes, der wegen Beihilfe zum Suizid verurteilt worden sei, und eines Arztes, der legal Ster- be- bzw. Selbsttötungshilfe leisten wolle. Die Aufhebung der Strafbar- keit der „Tötungshilfe“ ist kein österreichisches Spezifi- Es ist also nicht so, dass je- mand, der heute jemandem den Strick oder die Giftsprit- ze für den Selbstmord besorgt, dies straffrei tun kann. Damit folgte der Gerichtshof laut Medienberichten einem Ende Mai 2019 eingebrach- ten Antrag zweier schwer Er- kum. Eine breite Diskussion um eine ähnliche Entschei- dung gab es in Deutschland. Vor allem in den westeuropä- ischen Ländern – den Nieder- landen oder Belgien –, aber auch in einigen US-Staaten ist die Beteiligung an der Eutha- nasie gesetzlich geregelt. Ei ne bedeutende Rol le kommt dem Schweizer Ver- ein „Dignitas“ zu, der die Hilfe zur Selbsttötung und die Beseitigung rechtlicher Barrieren dafür als tatsäch- lichen Vereinszweck hat. „Di- gnitas ist eine kämpferische Organisation und setzt sich vor allem juristisch für das «letzte Menschenrecht» ein. „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Noch gültiger § 78, Strafgesetzbuch
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