AERZTE Steiermark | Jänner 2021

18 ÆRZTE Steiermark  || 01|2021 BEREICH IMPFEN einer klaren und genügend engen Indikationsstellung bedarf, wobei das Bedro- hungspotential der Seuche realistisch eingeschätzt wer- den muss. Oder auch, dass da ungeheure Steuersummen an die Impfstoffhersteller flossen. Außerdem ist die Befürch- tung der Kritiker ernstzuneh- men, dass eine Massenim- munisation mit Millionen Impflingen wohl nicht ganz ohne Nebeneffekte vonstat- tengeht, ganz zu schweigen von den bisher noch nicht abzusehenden Langzeitwir- kungen der im Rekordtempo durchgepeitschten Vakzinen. Und zuletzt, dass ein Impf- zwang in der Tat ein reales Szenario der näheren Zu- kunft darstellt, obwohl die Regierungen anderes verlaut- baren. So wie jüngst noch ein „Freitesten“ zur persönlichen Lockdown-Verkürzung zur Diskussion stand, so könnte man sich bald auch von aller- hand Ungemach „freiimpfen“ müssen. Eine befremdliche Aussicht für viele. Die anrol- lende Impfkampagne gegen Corona hat keinerlei histo- rische Vorlage, die Begleitum- stände der Pockenimpfung oder auch der Hexaimpfung des Kindesalters sind jeden- falls völlig verschieden gela- gert. Es ist Neuland, das wir nur nach allerkritischster und -strengster Sichtung betreten sollten. Wie wurde früher die Sicher- heit und Schutzwirkung von Impfungen überprüft? Viel- leicht lässt sich das anhand von klassischen Impfungen wie Diphtherie oder Tetanus aufzeigen? Zur Zeit der Spanischen Grippe und auch noch lange danach praktisch gar nicht. Das Diphtherie-Serum wur- de ab 1894 gänzlich ohne Si- cherheitsprüfungen von der HOECHST auf den Markt gebracht. Mit einem Mal re- duzierte sich die Sterblichkeit auf die Hälfte – wer wollte da nach Risiken und Ne- benwirkungen fragen, wenn es galt, den Würgeengel der Kinder zu bekämpfen? Ähn- liches gilt für das Tetanus- Antiserum, das zu Beginn des Ersten Weltkrieges in verschiedenen Armeen ver- impft wurde und Millionen das Leben rettete. In der Dramatik des Krieges mit seinen Myriaden von Wund- verletzungen durch Granaten oder Schusswaffen, und bei einer Sterberate von 40 Pro- zent aller Infizierten, spielte eine Sicherheitsprüfung kei- ne Rolle. Ganz bewusst wur- den Impfnebenwirkungen bei der Typhusimpfung in Kauf genommen, zumindest bei der k.u.k.-Armee, wo in einzelnen Truppenkörpern 90 Prozent der Geimpften über Nebenwirkungen klag- ten. Wegen des auflodernden Fiebers in der ersten Nacht nach der Impfung drück- ten sich die Soldaten wo auch immer möglich vor der Immunisation. Das Impfbe- steck war miserabel, in den Impfstoffkisten der Impfko- lonnen befanden sich Kanü- len von so schlechter Quali- tät, dass sie das Auskochen nicht vertrugen, sich ver- bogen oder beim Injizieren brachen. In der deutschen Armee war die Typhusimp- fung aufgrund der schweren Nebenwirkungen überhaupt verboten. Nicht zu vergessen sei auch die BCG-Impfung gegen die furchtbare Tuber- kulose – da gab es keinerlei klinische Prüfungen über etwaige Langzeitfolgen. Erst der Lübecker Impfzwischen- fall von 1930 löste heftige Diskussionen aus, als 77 Kin- der am Weißen Tod starben. Die Untersuchung brachte zu Tage, dass die Impfkulturen mit virulenten Tuberkulose- stämmen vertauscht worden waren. Zwar war nicht der Impfstoff selbst das Problem, aber klar und deutlich zeigte sich, dass mit Impfprogram- men auch Gefahren ver- bunden sein können. Dieser „Lübecker Totentanz“ ver- zögerte die Einführung der BCG-Impfung in Deutsch- land und Österreich bis nach dem Zweiten Weltkrieg, was Tausende weitere Tuberkulo- seopfer zur Folge hatte. Wann änderte sich dann die Lage grundlegend? Heute sind strengste Vorga- ben einzuhalten, die aber sehr schnell aufgeweicht werden können, wie die Genehmi- gungsverfahren in der Coro- na-Pandemie zeigen. Noch in den 1950er- und 1960er- Jahren interessierte vor allem die Wirksamkeit der Arznei- mittel, weniger die möglichen Nebenwirkungen – obwohl es beispielsweise bei der Ma- sernimpfung immer wieder zu Impfzwischenfällen kam. Neben der behördlichen Ge- nehmigung und der Regis- trierungspflicht gab es für die Pharmaindustrie keine wirklichen Vorschriften, Haf- tungsfragen waren äußerst unzureichend geregelt. Erst im Gefolge der Con- tergan-Katastrophe wurden die Arzneimittelgesetze ver- schärft und pharmakolo- gische und klinische Arznei- mittelprüfungen obligat. Man stelle sich vor: An gerade einmal 300 Patienten wur- de das Thalidomid getestet, ehe zwischen 1957 und 1961 300 Millionen Tagesdosen (!) über die Ladentheken gingen. Diese bitteren Erfahrungen mündeten 1978 in eine Neu- ordnung des deutschen Arz- neimittelrechtes, Österreich folgte 1983. Damit betreten wir eine Epo- che, zu der es so gut wie kei- ne medizinhistorische For- schung gibt. Auch das führt uns die Corona-Pandemie vor Augen, dass die seit Jah- ren sträflich vernachlässigte Medizingeschichte im Curri- culum der Ärzte wieder fester verankert werden sollte. „Damit betreten wir eine Epoche, zu der es so gut wie keine medizinhistorische Forschung gibt. Auch das führt uns die Corona-Pandemie vor Augen, dass die seit Jahren sträflich vernachlässigte Medizingeschichte im Curriculum der Ärzte wieder fester verankert werden sollte.“ Tuberkulose- Briefmarke aus dem Jahr 1921.

RkJQdWJsaXNoZXIy NDYwNjU=