AERZTE Steiermark | Juni 2021

cover stelltes Labor; daneben pflegt er eine enge Kooperation mit Radiologen, Neurologen und Psychologen. Steinackers Team nähert sich Long CO- VID aber auch aus gene- tischer Perspektive und hat bereits spezielle Expressionen von Genen gefunden, die mit der Erkrankung korrelieren. Den Einsatz von Psychophar- maka oder Schlafmitteln als rein symptomorientierte Be- handlungsstrategie sieht er kritisch, betont aber, dass noch viel Expertise dazu ge- sammelt werden müsse. „Psy- chologische Elemente sind sehr wichtig“, betont er. Aber auch: „Man wird mit den Symptomen schnell ins psy- chische Eck gestellt. Ich glau- be, wir werden da noch viel lernen müssen.“ Wenn sich eine 22-jährige Sport lerin nach zehn Minuten Gehen vor Überanstrengung ins Bett legen muss, „sind wir ge- zwungen, uns mit dieser Rea- lität auseinanderzusetzen“. Ambulante Reha Zur langfrist igen Versor- gung von Long-COVID- Patient*innen würde Stein­ acker eine ambulante Reha mit multimodalem Training be- vorzugen, die neben regelmä- ßigen medizinischen Checks, Laboruntersuchungen, psy- chologischen Gesprächen und einem medikamentösen Kon- zept auch Übungseinheiten zu Hause umfassen sollte. „Ich persönlich halte ambulante Maßnahmen wegen dem lan- gen Verlauf von Long COVID für wichtiger und geeigneter als stationäre Rehabilitation. Letztere ist für Patienten nach stationärer Intensivbehand- lung, insbesondere nach Lang- zeitbeatmung, sinnvoll.“ Berlin: Sprechstunde für Chronische Fatigue Die bereits zuvor etablierte Sprechstunde für Chronische Fatigue der Immundefektam- bulanz des Instituts für Me- dizinische Immunologie an der Berliner Charité wurde in den vergangenen Mona- ten zur stark frequentierten Anlaufstelle für Menschen mit Long COVID, die unter Fatigue leiden. Eine direkte Kontaktaufnahme mit der stel lvertretenden Instituts- leiterin und CFS-Expertin Carmen Scheibenbogen war leider bis Redaktionsschluss nicht möglich. In einem In- terview mit der ZEIT ON- LINE hat sie aber die Grund- züge ihrer Arbeit erklärt. An der Spezialambulanz aufge- nommen werden können – trotz zusätzlich eingerichteter Sprechstunde – nur Betrof- fene, die sechs Monate nach der Akutinfektion noch unter Chronischer Fatigue leiden. „Zum einen, weil wir die Er- fahrung gemacht haben, dass die Erschöpfung, die viele am meisten quält, drei bis sechs Monate nach der akuten In- fektion in vielen Fällen von selbst aufhört. Zum anderen aber auch einfach, weil die Warteliste inzwischen so lang ist“, erklärt Scheibenbogen. In ihrer Ambulanz trifft sie auf zusätzliche Symptomatik wie brain fog oder Störungen des autonomen Nervensystems. Derzeit werden gerade Da- ten einer großen epidemiolo- gischen Studie ausgewertet, die Informationen darüber liefern sollen, wie häufig eine Corona-Infektion in ein CFS mündet. „Ich schätze, dass etwa ein bis zwei Prozent der positiv Getesteten anschlie- ßend ein CFS entwickeln. Das klingt nicht viel, aber wenn man es hochrechnet, erwarte ich in Deutschland Zehn- tausende chronisch kranke Menschen im besten Alter“, so Scheibenbogen. Selbstbeobachtung Eine gezielte Therapie gibt es noch nicht. Scheibenbogen behandelt die Symptome wie Schlafstörungen und Schmer- zen, fokussiert auf die Selbst- kompetenzen der Betroffenen, aber auch auf Entspannung und konsequente Reduktion vermeidbarer Stressfaktoren. Mittels Aktivitätstrackern können die Patient*innen nachverfolgen, wie viel Zeit sie in welchem Aktivitätsgrad verbracht haben und wie sich ihr Puls dabei entwickelt hat. Das Ziel ist, selbst abschätzen zu lernen, was zumutbar ist. Denn bereits auf kleine Über- lastungen können Wochen folgen, in denen die Betrof- fenen das Bett hüten müssen. Wie auch bei Chronischer Fatigue nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus ver- mutet Scheibenbogen, dass die Heilungschancen der Jün- geren besser sind. Von ihnen, so ihre Erfahrung, werden zwei Drittel wieder gesund. Al lerdings manchmal erst nach Jahren. Nicht alle treffen in dieser Zeit auf Akzep- tanz ihres Leidens: „Selbst manche Professoren tun die Ærzte Steiermark || 06|2021 11 „Man wird mit den Symptomen schnell ins psychische Eck gestellt. Ich glaube, wir werden da noch viel lernen müssen.“ Jürgen Steinacker, Universitätsklinikum Ulm So lange es kei- ne gezielte The- rapie gibt, wer- den vor allem die Symptome behandelt. Häufig nennen Betroffene Erschöpfung. Ganz generell empfehlen Fachleute stark auf die Selbst- beobachtung der Patien- tinnen und Patienten zu setzen. Foto: Adobe Stock

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