AERZTE Steiermark | November 2021
32 ÆRZTE Steiermark || 11|2021 Foto: ESSSTÖRUNGEN Adobe Stock jedem Fall soll die Verbindung zum bisherigen Alltag best- möglich erhalten bleiben. „Oft ist eine ambulante Therapie zu wenig und ein stationäres Setting nicht nötig“, erklärt Lahousen-Luxenberger. Das Tageszentrum schließt genau diese Lücke. Im individuellen Erstgespräch wird dort der Bedarf ausgelotet und danach ein maßgeschnei- dertes Therapieprogramm er- stellt, das aus den Bausteinen Gewichtsrehabilitation, Ess- begleitung, Lehrküche, Bewe- gungsmanagement, Psychothe- rapie, Maßnahmen zur Verbes- serung der Körperakzeptanz und Einbindung der Familie besteht. Das multidisziplinäre Team des LeLi umfasst zwei Psychotherapeutinnen, There- sa Lahousen-Luxenberger als Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, zwei Diätologinnen, je eine Er- gotherapeutin, Sozialarbeiterin und Physiotherapeutin. Sowohl die Betroffenen selbst als auch ihre Angehörigen können sich an das LeLi um Hilfe wenden. Auch anonyme telefonische und Online-Beratung werden angeboten. Ein weiteres Ziel des Zentrums ist die Bewusst- seinsarbeit: Mit Vorträgen und Workshops soll das Tabu aufgehoben werden, das Ess- störungen umkreist, und ein niederschwelliger Zugang zum Zentrum geboten werden. Für den einen oder die andere kann genau dieses Informationsan- gebot den ersten Schritt zur Krankheitseinsicht bedeuten. www.leli-tageszentrum.at Lebensliebe (LeLi) als thera peutisches Ziel, das ist die Grundhaltung im LeLi-Zen- trum für Menschen mit Ess- störungen . Die Nachfrage ist enorm: Bereits wenige Wochen nach der Eröffnung des neuen Tageszentrums, das die Lebens- hilfe seit Juli auf den Grazer Reininghausgründen betreibt, hatten sich mehr als hundert Interessent*innen gemeldet. Wobei dem Stern in der Mitte des Wortes nach wie vor nur wenig Bedeutung zukommt. „Die psychosomatischen Krank- heitsbilder von Essstörungen sind leider eindeutig Frauen sache und die Hauptrisikogrup- pe sind Mädchen und Frauen in der Adoleszenz“, erklärt Theresa Lahousen-Luxenberger, Fachärztin im LeLi und an der Grazer Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychothera- peutische Medizin. So kommt bei der Anorexia nervosa auf zehn betroffene Frauen nur ein Mann mit dieser Essstörung; bei der Bulimia nervosa liegt das Verhältnis gar bei 20:1. Häufiger als Schizophrenie Ob Anorexie, Bulimie oder Binge-Eating-Störung – Aus- maß und Auswirkung von Ess- störungen werden immer noch zu wenig bewusst wahrgenom- men. „Die Inzidenz wird oft unterschätzt. Mit einer Lebens- zeitprävalenz von 0,9 Prozent bei Anorexie und 3,5 Pro- zent bei Binge Eatern sind die Menschen mit Essstörungen jenen mit einer Schizophrenie numerisch deutlich überlegen“, betont Lahousen-Luxenberger. Anorexia nervosa ist auch jene psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate: Jede zehnte Erkrankte überlebt die Störung nicht. Es handelt sich folglich nicht um ein banales Problem mit Ernährung und Gewichtsmanagement, bei dem mit ein paar aufmunternden Worten Abhilfe geschaffen wer- den kann. „Bei Essstörungen sind schwerwiegende medi- zinische Folgeerscheinungen leider keine Seltenheit: von Amenorrhoe über endokrino- logische Veränderungen, Stö- rungen des Hormonhaushalts, eine deutliche Erniedrigung der Knochendichte, Zahnprobleme, dermatologische Störungen, Haarausfall, Elektrolytentglei- sungen bis hin zu Verände- rungen des Blutbildes.“ Je frü- her interveniert und behandelt werde, so Lahousen-Luxenber- ger, desto besser stünden die Heilungschancen. Bei einem Drittel der Erkrankten trete je- doch eine Chronifizierung ein. Schutzstrategie zur Gefühlsregulation Mit Essen haben Essstörungen nur teilweise zu tun – in den Symptomen der Gewichtsregu- lierung und den teils bizarren Maßnahmen, um diese zu er- reichen, manifestiert sich eine viel komplexere Erkrankung. Die Nahrungsaufnahme stellt vielmehr jenen Lebensbereich dar, in dem Selbstbestimmung und Kontrolle aus eigener Kraft zu erlangen sind, die eigentlich gerade auch in anderen Be- reichen aus dem Ruder laufen. „Die Essstörung ist unserer An- sicht nach eine Schutzstrategie, die verwendet wird, wenn die Person in Not gerät. Mit ihr hat sie ihre Gefühle reguliert, um zu überleben“, erklärt Nina Baumgartner, Juristin und Psy- chotherapeutin in Ausbildung, die das Tageszentrum LeLi leitet. „Zugrunde liegend sind in jedem Fall ein vermindertes Selbstwertgefühl und eine ausgeprägte Körperschema- störung. Biologische Faktoren wie hormonelle Einflüsse, bei- spielsweise durch Leptin, und die genetische Prädisposition spielen nachweislich eine Rolle bei der Manifestation einer Essstörung. Ebenso perfektio- nistische Charakterzüge, aber auch der Medienkonsum und der familiäre Kontext“, führte Baumgartner im Interview mit der Österreichischen Ärztezei- tung aus. Die Entwicklung von Regulationsmechanismen zur emotionalen Verdrängung und dem Erlangen von Kontrolle sind zudem mit einem hohen Suchtpotential verbunden. Flexibles Ausmaß Finanziert wird das LeLi-Ta- geszentrum von der Stadt Graz sowie dem Gesundheitsfonds Steiermark. Sein Alleinstel- lungsmerkmal besteht unter anderem in der Flexibilität des Angebotes je nach Bedürfnis- sen der Klient*innen: Wäh- rend manche Berufstätige nur zu einzelnen nachmittäglichen Einheiten kommen, nutzen an- dere die ganztätige Tagesstruk- tur von Montag bis Freitag. In Das Tageszentrum LeLi bietet ein breit gefächertes, individuell dosiertes Angebot an Hilfen für Menschen mit Essstörungen. Damit schließt das österreichweit einzigartige An- gebot die Lücke zwischen ambulanter Versorgung und einem stationären Setting. LeLi – maßgeschneiderte Hilfe
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