AERZTE Steiermark | März 2022

8 Ærzte Steiermark || 03|2022 Cover „Der Verfassungsgerichtshof möchte keinen Druck ausüben“ AERZTE Steiermark: Wie stark muss sich der Verfassungsgerichtshof mit medizinischen Rechtsfragen befassen? Grabenwarter: Der Verfassungsgerichtshof muss sich in den letzten beiden Jahrzehnten vermehrt mit Fragen des Medizinrechts beschäftigen. Anfechtungen von Gesetzen mit zentraler gesellschaftspolitischer Bedeutung implizieren oft Sachfragen, die im medizinischen Bereich beheimatet sind. Denken Sie an die Frage der Fortpflanzungsmedizin, an die Frage der Beihilfe zum Suizid, an den Datenschutz im Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitsakte oder, seit 2020, an die vielfältigen Fragen in der Bekämpfung der Pandemie. Es gibt den Vorwurf, der Verfassungsgerichtshof würde mit seinen Entscheidungen tiefgehend in die Gesellschaftspolitik eingreifen – man denke nur an die Entscheidungen zur Sterbeverfügung oder zum Recht unverheirateter Paare, Kinder zu adoptieren. Was antworten Sie auf solche Vorhaltungen? Wie bereits angesprochen: Der Verfassungsgerichtshof entscheidet Fragen mit gesellschaftspolitischer Relevanz, er entscheidet aber nicht nach politischen Maßstäben, sondern am Maßstab des Rechts, genauer gesagt der österreichischen Bundesverfassung. Man kann also sagen, der Verfassungsgerichtshof entscheidet Fragen mit Auswirkungen auf die Gesel lschaftspolitik, er macht aber nicht selbst Politik. Sein Maßstab ist und bleibt das Recht. Ist der Verfassungsgerichtshof in seinen Entscheidungen zu offensiv? Offensiv oder defensiv sind Kategorien des Mannschaftssports. Es gibt aber doch Entscheidungsmaximen, die ein Verfassungsgericht zur Zurückhaltung gegenüber der Politik mahnen. Dazu gehört die Anerkennung eines rechtspol it ischen Gesta ltungsspielraums, die in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes seit Jahrzehnten unbestritten ist. Gibt es VfGH-Entscheidungen, die Sie persönlich nicht mögen? Zu allen Entscheidungen, an denen ich mitgewirkt habe, habe ich das gleiche Verhältnis: Ich bin froh, dass die Entscheidung getroffen wurde, und ich hoffe, dass sie bei denen, die von ihr betroffen sind, möglichst hohe Akzeptanz findet. Ob ich in allen Fällen mit dem Ergebnis hundertprozentig einverstanden bin oder ob mir die eine oder andere Formulierung mehr oder weniger gut gefällt, ist dabei völlig unerheblich. Wird der VfGH in letzter Zeit mehr gefordert als früher? Falls ja, wie gehen Sie damit um? Ja, der Verfassungsgerichtshof ist heute sicher mehr gefordert als im Jahr 2005, als ich in das Kollegium des Gerichtshofes eingetreten bin. Das hat einerseits quantitative Gründe, im Jahr 2005 sind knapp 4.000 Beschwerden und Anträge eingegangen, im Jahr 2020 waren es fast 6.000. Zum anderen sind aber auch die Fragen und Sachverhalte schwieriger geworden. Dazu gehört die zunehmende Bedeutung des Europarechts, die Komplexität der Lebenssachverhalte und die Anforderungen neuer Zuständigkeiten wie jene über Untersuchungsausschüsse. Wir gehen damit so um, wie das ein Gericht tun muss. Zum einen wurden die Ressourcen vom Gesetzgeber vermehrt, insbesondere auch, um den gestiegenen Bedarf im Asylrecht abzudecken. Zum anderen haben wir in die Qualität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investiert; ohne deren Hilfe wäre die Bewältigung dieses Arbeitspensums nicht möglich. Mit wie vielen zusätzlichen Prüfungen war der VfGH während der Corona-Pandemie befasst? Wie konnte das abgefangen werden? Der Verfassungsgerichtshof war seit Beginn der Pandemie mit mehr als 600 Fällen befasst, die Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID- 19 betroffen haben. Knapp 500 davon haben wir erledigt (Stand Mitte Februar, Anm.). Im Augenblick sind etwa 150 Fälle anhängig. Wir haben zusätzliche Sitzungsperioden eingeschoben, mehrere Richterinnen und Richter haben Zusatzaufgaben übernommen, wir haben die Erledigung beschleunigt. Rechnen Sie mit vielen Beschwerden aufgrund des Impfpflichtgesetzes? Was werden Sie tun, um die Belastung in Grenzen zu halten? Wir rechnen durchaus mit einer größeren Anzahl von Beschwerden. Eine genaue Zahl Nicht nur die Sterbeverfügungs-Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 2020 hat direkte Auswirkungen auf den ärztlichen Beruf. VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter betont im AERZTE Steiermark-Gespräch, dass der Gerichtshof sich seine Fälle nicht aussuchen könne. „Der Verfassungsgerichtshof war seit Beginn der Pandemie mit mehr als 600 Fällen befasst, die Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID 19 betroffen haben.“ Christoph Grabenwarter

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