AERZTE Steiermark | Juli August 2022

NIEDERGELASSENE ÄRZTINNEN UND ÄRZTE ÆRZTE Steiermark || 07_08|2022 47 Der ganz normale Praxiswahnsinn PRAKTISCH TÄGLICH Von Ulrike Stelzl Hirn im Kopf und Petersilie in der Hand Frau R. hat jahrelang im Supermarkt an der Wursttheke gearbeitet, hat keine höhere Schulbildung und stammt ursprünglich nicht von hier. Sie weiß bestimmt nicht, wer Aischylos war und ob man mittels Integral das Volumen einer Klomuschel berechnen kann. Aber sie hat Hirn im Kopf. Vom Wochenenddienst hatte sie wegen eines Erythema migrans ein Doxycyclin verschrieben bekommen. Als ich zu einer Erklärung bezüglich der Einnahmemodalitäten ansetze, meint sie: „Brauchens gar nix sagen. I hab ma des alles durchgelesen.“ Und zitiert den Beipackzettel. Bei der letzten Gesundenuntersuchung meinte sie, dass ich mich nicht über den Harntest schrecken sollte. Denn das neue Diabetesmedikament würde Zucker über die Nieren ausscheiden und deshalb müsste der Streifen sich verfärben. Sie meldet sich regelmäßig zur HBA1c-Kontrolle, ihr Impfpass ist tipitopi und ihr Blutdruck gut eingestellt. Wenn dieser doch einmal schwankt, steht sie bei mir auf der Matte und fragt, was wir tun sollen. Sie weiß um gesunde Ernährung, zieht ihr eigenes Gemüse und hat auch die Gesundheitsagenden ihrer Familie fest im Griff. Wenn sie einmal krank ist, gibts Tee, Paracetamol und Hustensaft, oder auch Tee, Schonkost und Probiotika – je nach Infekt. „Was anderes täten Sie auch net sagen, Frau Doktor, deswegen komm i erst, wenns nix hilft. Dann weiß i, dass mei Frau Doktor mir helfen muss.“ Ich freue mich jedenfalls immer, wenn ich sie sehe. Sie ist ein so wohltuender Kontrast zum normalen Praxiswahnsinn. Gerade erklärt mir ein von Brechdurchfall geplagter Student, er würde Schonkost zu sich nehmen. In der Früh hätte er schon drei weiche Eier gegessen. Jetzt sei ihm noch mehr schlecht. Woran das wohl liegt! Ein Mathematiker mit Hexenschuss kann seinen Kopf seit zwei Wochen nicht bewegen. Aber ein Schmerzmittel nehmen? Wie komme ich bloß auf diese Idee? Eine Lehrerin klagt über fürchterliche Kopfschmerzen und Rhinosinusitis. Sie hat gerade die Quarantäne hinter sich. „Haben Sie regelmäßig Nasenspray und Ibuprofen genommen?“ „Nein. Aber der Schnupfen und die Kopfschmerzen haben mich fast umgebracht.“ „Warum haben Sie mich denn nicht angerufen?“ „Wieso hätte ich sollen? Bei Corona kann man ja sowieso nichts machen.“ Danach ist noch eine Vierjährige zum Ohrringe schießen da. Die Mama, Bachelor of Education, hat Lokalanästhetikum auf die Ohren geschmiert. Nur halt nicht dorthin, wo die Ohrringe hin sollen. Ich hoffe, dass Frau R. bald wieder mal vorbeikommt. Auf dem Gesicht ein Lächeln, im Kopf Hirn und in der Hand frische Petersilie aus ihrem Garten für mich. Dr. Ulrike Stelzl ist niedergelassene Ärztin für Allgemeinmedizin. Mehr von ihr gibt es im Buch „Hallo Doc! 2 Der ganz normale Praxiswahnsinn“ (erhältlich bei Amazon) Foto: Stelzl, Ärztekammer/Schiffer Notfall COVID-19 Das Ärztegesetz verpflichtet Ärztinnen und Ärzte … „für die erste Hilfeleistung in dringenden Fällen notwendige Arzneimittel vorrätig zu halten“. Diese Regelung muss auch für die Behandlung von COVID-19-Betroffenen gelten. Es geht konkret um ein „Notfall-Package“ mit Schmerzmitteln, fiebersenkenden und eventuell hustendämpfenden Mitteln, vor allem aber antiviralen COVID-Medikamenten. Diese sollten Infizierte nicht erst mühsam in Apotheken besorgen müssen, schon um die Ansteckungsgefahr in Grenzen zu halten. Zum Paket gehöre auch der Test in der Ordination. Jetzt liegt der Ball beim Bund.

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