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ÆRZTE
Steiermark
|| 10|2015
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funktionierenden Systems zu
fördern; eine Kritik, die die
WHO genau so bereits 1969
anbrachte – frustran.“
Auch Glehr hat Bedenken:
„Um eine Steuerung der Pa-
tientenwege wird man nicht
herumkommen. Hier fehlt der
politische Mut. Die selbstsüch-
tige Grundeinstellung vieler
Menschen, auch bei banalen
Problemen eine maxima-
le Versorgung anzustreben,
blockiert unser Gesundheits-
system durch Überlastung
hochspezialisierter Struk-
turen. Überdies unterstützt
die Rechtsprechung häufig
den Missbrauch spezialisierter
Einrichtungen in gesamtge-
sellschaftlich verantwortungs-
loser Weise. Auch werden
Juristen, Gesundheitswissen-
schafter, so genannte Pati-
entenvertreter, die teilweise
eine mangelhafte Qualifika-
tion vorweisen, von der Poli-
tik vorgeschoben und in den
Status von Systemexperten
gehoben. Sie treten häufig für
rigide Modelle ein, deren Aus-
wirkungen sie nicht wirklich
überblicken. Die Ärzteschaft
mit ihrem Wissen um Gesetz-
mäßigkeiten der Patienten-
versorgung wird gleichzeitig
weitgehend ausgeschaltet. Un-
ter diesen Umständen wird
Primary Health Care eine
teure Fehlentwicklung werden,
deren Folgen die Bevölkerung
erleiden wird müssen.“
Harald Gaugg: „Es geht nicht
um Be- oder Entlastung eines
Bereiches, sondern um bes-
sere Versorgung der Patien-
tInnen bei gleichzeitig bes-
seren Bedingungen für die
Leistungserbringer.“
Einsparungen durch
Primary Health Care?
Und die Kosten? „Die Stär-
kung der qualitätsvollen
Allgemeinmedizin kann zur
Kostendämpfung viel bei-
tragen“, sagt Glehr. Medizi-
nische Versorgungszentren
mit angestellten Ärzten seien
jedoch teuer und würden kei-
ne Kostendämpfung ermögli-
chen: „Das passiert nur in den
Köpfen von nicht-ärztlichen
Systemtheoretikern, die das
emotionale Geschehen der
Versorgung nicht verstehen.
Da kann man nur an Goe-
thes Faust erinnern: ‚Grau,
teurer Freund, ist alle Theorie.
Und grün des Lebens gold‘ner
Baum.‘ Das vielgepriesene
englische NHS befindet sich
nicht umsonst in einer per-
manenten Krise. Die Ausga-
ben in den Niederlanden sind
höher als in Österreich.“
Schneider ist dagegen über-
zeugt, dass eine geglückte
Umlenkung der Patienten-
ströme jedenfalls auch Kos
tendämpfungen nach sich
zieht. Und fordert vehement
„Finanzierung aus einer Hand,
Auflösung sämtlicher beste-
hender Verantwortungs- und
Verwaltungsstrukturen und
damit endlich das Arbeiten
für eine f lächendeckende
Grundversorgung“.
Pichlbauer will den finan-
ziellen Aspekt nicht in den
Mittelpunkt stellen: „Ich mag
diese Kostendiskussion nicht,
weil sie immer so an Sparen
erinnert. Bei der abgestuften
Versorgung geht es vor allem
darum, dass mit den gleichen
Ressourcen mehr Gesundheit
erzeugt werden kann. Ich will
gar nicht, dass wir weniger
Geld für die Gesundheitsver-
sorgung ausgeben, ich will
nur, dass aus dem Geld mehr
gemacht wird. Wenn man eine
Zahl haben will, dann viel-
leicht nur so viel – die Ergeb-
nisse, die unser System derzeit
‚produziert‘, könnten auch mit
20 Prozent weniger Geld er-
zeugt werden – das sind etwa
fünf Milliarden Euro. Also
eine ganze Menge Geld, das
eingesetzt, aber eben nicht in
Gesundheit umgesetzt wird.“
Korsatko rechnet dagegen
mit höheren Anfangskosten:
„Die Einführung einer neu-
en Primärversorgung wird
initial nichts einsparen. Im
Gegenteil muss man zunächst
in Parallelstrukturen und
Modellversuche investieren.
Hat sich eine idealtypische
PV – mit erweitertem Lei-
stungsspektrum, Öffnungs-
zeiten, Kooperationen und
Präventions- bzw. Gesund-
heitsförderungsmaßnahmen
– einmal etabliert, sind Ein-
sparungen durch Verlagerung
der Patientenströme und
Verringerung der stationären
Leistungen die logische Fol-
ge. Beim aktuellen medizi-
nischen Fortschritt wird man
diese Einsparungen aber ver-
mutlich wenig bemerken. Ein
soziales und hochleistungs-
fähiges Gesundheitssystem
kostet einfach viel Geld, dazu
muss sich der Staat bekennen.“
Für Gaugg ist die kosten-
dämpfende Wirkung Illusion:
„Internationale Erfahrungen
zeigen, dass gute PHC-Syste-
me keinen Beitrag zur Kos
tendämpfung leisten.“
Bottom-up
Was die Reform insgesamt
betrifft, übt Korsatko Kritik
an einer zentralen Konzepti-
on: „Im internationalen Ver-
gleich sieht man, dass Ver-
änderungen nun durch die
Ärzteschaft Bottom-Up aus
den Ländern bzw. Regionen
heraus vorangetrieben wer-
den müssen. Eine einfache
Lösung, die allen Regionen
gerecht wird und alle Pro-
bleme löst, wird es nicht ge-
ben. Flexibilität, Kreativität
und Mut sind die Eigenschaf-
ten die wir jetzt brauchen!“
Pichlbauer fordert Konstruk-
tivität: „Mehr Sachlichkeit
und Patientenorientierung,
statt Machtpolitik und Res-
sentiments könnte dem The-
ma dienlich sein – aber ich
verstehe schon, dass es bei uns
praktisch nie um Lösungen
geht, sondern nur um Pfrün-
de – bei allen.“
„Um eine Steuerung der Patientenwege
wird man nicht herumkommen. Hier
fehlt der politische Mut.“
Reinhold Glehr
„Finanzierung aus einer Hand! Auflösung
sämtlicher bestehender Verantwortungs-
und Verwaltungsstrukturen.“
Andreas Schneider