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Ærzte
Steiermark
|| 10|2013
Titel
Andreas Botzlar, Chirurg
und
2. Vorsitzender des Marburger
Bundes, referiert am 21. Oktober
in Graz über den Ärztemangel.
Ein Vorgespräch.
AERZTE Steiermark:
Sie befassen sich
intensiv mit dem Thema Ärztemangel
– wie dramatisch ist das Problem tat-
sächlich?
Botzlar:
Gegenwärtig ist der Ärzteman-
gel gerade groß genug, um auch den
notwendigen Fortschritt bei Arbeits- und
Entgeltbedingung anzuschieben. Der
Attraktivitätsverlust des Arztberufs ist
zu einem erheblichen Teil auch auf den
relativen Überschuss von Ärztinnen
und Ärzten in zurückliegenden Jahr-
zehnten zurückzuführen. Relativ war
dieser Überschuss deshalb, weil ein
Mehrbedarf an ärztlicher Arbeitskraft
eigentlich bereits gegeben war. Zumin-
dest in Deutschland resultierte aber
der zunehmende Finanzierungsmangel
einerseits in arbeitslosen Ärztinnen und
Ärzten, und andererseits in einer gewal-
tigen Mehrarbeitsbelastung für diejeni-
gen Ärztinnen und Ärzte, die den Beruf
tatsächlich ausüben konnten. Damit der
Ärztemangel keine Dimension annimmt,
welche die medizinische Versorgung der
Bevölkerung auf dem von ihr bisher ge-
wohnten Niveau unmöglich macht, muss
die bereits begonnene Verbesserung der
Rahmenbedingungen für die ärztliche
Berufsausübung dringend fortgeführt
werden. In jedem Fall bedarf es aber zu-
dem einer Anpassung der Versorgungs-
strukturen sowohl an die veränderten
Lebensgewohnheiten der Bevölkerung in
Der schlimmste aller Irrwege aber ist der immer
wieder unternommene Versuch, auf europäischer
und auf nationaler Ebene die Schutzwirkung der
Arbeitszeitgesetzgebung zu untergraben. Wie soll
das Arztsein attraktiver werden, wenn einerseits die
Arbeitsbelastung von vielen als immer noch zu hoch
empfunden wird, andererseits aber die Obergrenzen wieder
aufgedehnt werden sollen? Diese ungeeigneten Maßnahmen
werden das Problem des sich verstärkenden Ärztemangels,
das der Motivationskrise folgt, nicht lösen sondern
verschlimmern.
Wenn weniger als vier von fünf Studierenden der
Humanmedizin nach erfolgreich abgeschlossenem Studium
kurativ in Deutschland tätig werden, so ist dies ein
Alarmsignal erster Ordnung. Bevor also im Angesicht des
zunehmenden Ärztemangels die Anzahl der Studienplätze
erhöht wird, muss zuvor darüber nachgedacht werden, wie
die Arbeitswelt attraktiver gestaltet werden kann.
Dr. Andreas Botzlar, 2. Vorsitzender des Marburger
Bundes, der größten (freiwilligen) Interessensvertretung von
Spitalsärzten in Deutschland
>>
Die 2012 veröffentlichte österrei-
chische Ärztebedarfsstudie weist auf
einen Ärztemangel hin, der in rund zehn
Jahren wohl spürbar sein wird. Ines Cz-
asný, Statistikerin im ÖBIG und eine der
Autorinnen, weist allerdings auf die un-
zureichende Datenlage hin. Noch weiß
man nicht, wie sich die Veränderungen
im österreichischen Studiensystem auf
den Output auswirken werden und auch
nicht, wie viele der deutschen Medizin-
studierenden nach der Promotion in
Österreich bleiben und arbeiten werden.
Das Dilemma: 2016, wenn die Auswir-
kungen des neuen Studiensystems ab-
schätzbar sind, ist es schon sehr spät, um
ohne spürbare Mangelerscheinungen
gegensteuern zu können.
„Für die Abschätzung des künftigen
Ärztebedarfs ist neben den reinen Perso-
nenzahlen auch deren Tätigkeitsausmaß
von Bedeutung“, heißt es in der zitierten
Studie: Im Klartext: Es geht nicht nur
darum, wie viele Ärztinnen und Ärzte
arbeiten, es geht mehr noch darum, wie
viel und wo sie arbeiten wollen.
Die Fragen:
y
Wie viele der Absolventinnen und Ab-
solventen Medizinischer Universitäten
gehen in Österreich in die kurative
Medizin? Wie viele weichen in andere
Bereiche (Forschung, Wellness …) aus,
wo die Arbeitsbedingungen weniger
belastend sind und es „normale“ Ar-
beitszeiten gibt?
y
Welche Auswirkungen werden der
höhere Frauenanteil in der Medizin
(er stieg im Zeitraum von 2000 bis
2008 von 37 auf 43 Prozent, im Turnus
waren 2008 60 Prozent Frauen), aber
auch das geänderte berufliche Selbst-
verständnis von Männern (Stichwort
work-life-balance) auf die Lebensar-
beitszeit haben?
y
Wie verändert sich das Pensionsalter?
y
Wie viele österreichische Mediziner
werden in Zukunft nach Studienab-
schluss ins Ausland abwandern (das
hängt auch stark von den Ausbildungs-
und Arbeitsbedingungen ab)?
y
Wie viele der ausgebildeten Ärztinnen
und Ärzte für Allgemeinmedizin wer-
den bereit sein, in Landarztpraxen zu
gehen?
Ein ganzes Potpourri aus Entschei-
dungen, individuellen und strukturellen,
wird also darüber entscheiden, wann
und in welcher Schärfe sich ein Ärz-
temangel auswirkt. Aber eines scheint
gewiss: Nichts zu tun, den Mangel zu
ignorieren und totzuschweigen, ist die
gefährlichste Lösung. Weil sie keine ist.
Foto: Marburger Bund