

ÆRZTE
Steiermark
|| 05|2017
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DEBATTE
STANDORTBESTIMMUNG
Herwig Lindner
Gehen wir gemeinsam
den ärztlichen Weg
Das Primärversorgungsgesetz zeigt das Dilemma der Ge-
sundheitspolitik in seiner ganzen Breite. Die Politik fühlt
sich dazu berufen, vielleicht auch gezwungen, umfassende
Regelwerke zu konstruieren, die alle gegenwärtigen Pro-
bleme lösen, künftige Probleme vorhersehen und aus der
Vergangenheit mitgenommene Probleme neutralisieren.
Und alle sollen zufrieden sein.
Das geht nicht – bei allem guten Willen.
Es gibt kein Regelwerk, das überall funktioniert. Es gibt
kein Regelwerk, das alle denkbaren Entwicklungen berück-
sichtigen kann. Es gibt kein Regelwerk, das Probleme be-
stehender Strukturen vollständig löst und gleichzeitig alle
seine Schwächen beseitigt.
Die logische Konsequenz wäre, Regelwerke nicht auszuwei-
ten, sondern zurückzunehmen, Möglichkeiten zu schaffen,
Versuche zuzulassen und gegebenenfalls dann auch wieder
einzustellen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir kein umfassen
des Primärversorgungsgesetz brauchen, um die Primär-
versorgung zu verbessern. Ich bin gleichzeitig überzeugt
davon, dass neue Regeln einige dazu bewegen, sie für sich
nutzen, gleichzeitig aber viele, die mit ihnen nichts anfan-
gen können, frustrieren und demotivieren.
Ich halte also dieses neue Gesetz für überflüssig, aber
gleichzeitig ist es unvermeidlich. Weil die politische – nicht
die medizinische – Logik es erfordert. Wir werden also da-
mit leben müssen.
Viele Ärztinnen und Ärzte wollen mit dem wuchernden
System nichts zu tun haben, oder zumindest nicht allzu
viel. Alle Untersuchungen, die wir kennen, sagen das Glei-
che: Zu viel Zwang, zu viel Bürokratie, zu komplizierte
Rahmenbedingungen zerstören das Engagement, die Lust,
den persönlichen Antrieb. Sie schaffen keine Sicherheit,
sondern belasten nur. Sie machen letztlich sogar krank.
Aus ärztlicher Sicht gibt es ein Ziel: wieder Freiheit und
Freiraum herzustellen. Freiheit und Freiraum, in denen
persönliche Leidenschaft, aber auch persönliche Verant-
wortung gedeihen können.
Das wird uns nicht in ein paar Tagen, Wochen und Mo-
naten gelingen. Das ist ein Langzeitprojekt, das nur zum
Erfolgsprojekt werden kann, wenn wir es gemeinsam an-
streben.
Wird es je die perfekte Lösung geben? Natürlich nicht.
Zumindest nicht für jeden. Aber es kann ein Gesundheits-
system geben, das weniger System ist, dafür aber mehr Luft
zum Atmen gibt. Ein System, in dem Profis und Betroffene
respektvoll miteinander umgehen. Das heißt nicht, dass
sie immer einer Meinung sind. Im Gegenteil, Widerspruch
und Debatte sind die Voraussetzung dafür, dass Neues und
Besseres entstehen. Absolute Gewissheit ist gleichbedeu-
tend mit Stillstand.
Ist Ungewissheit mehrheitsfähig? Derzeit wohl eher nicht.
Denn sie ist anstrengend und daher unbequem. Anderer-
seits: Niemand von uns hat sich für den Arztberuf ent-
schieden, weil er es bequem und gemütlich haben wollte.
Wir haben uns für diesen Beruf entschieden, weil wir nach
bestem Wissen und Gewissen das Bestmögliche für unsere
Patientinnen und Patienten herausholen wollen.
Das ist manchmal anstrengend, bisweilen auch frustrie-
rend. Aber das haben wir immer gewusst und das wollen
wir so. Und die positiven Erfahrungen auf der persön-
lichen Ebene überwiegen immer.
Nicht einfach so hinnehmen wollen wir aber die Steine, die
das System uns und unseren Patientinnen und Patienten
in den Weg legt. Bürokratische Absurditäten, Ungerech-
tigkeiten … Jeder von uns kennt sie, jeder von uns hat sie
schon erlebt. Wir sind realistisch genug, um zu wissen,
dass es sie immer geben wird. Aber wir wollen sie nicht
einfach hinnehmen, wir dürfen uns nicht an sie gewöhnen.
Das wäre die innere Emigration, die Kapitulation. Dann
wären wir, um es mit Literaturnobelpreisträger Thomas
Mann zu sagen, „Ofenhocker des Unglücks“.
Gehen wir also diesen unbequemen Weg, der uns nicht nur
Freunde machen wird, der aber zutiefst ärztlich ist. Streiten
wir auch. Sagen wir klar, was wir wissen. Bleiben wir dabei
aber fair zueinander und gegenüber anderen. Lassen wir
uns nicht schnell von unseren Überzeugungen abbringen,
erkennen wir aber an, dass auch andere Überzeugungen
haben können, die richtig sein können.
Gehen wir den ärztlichen Weg.
Dr. Herwig Lindner ist Präsident der Ärztekammer Steiermark
Fotos: Oliver Wolf, Teresa Rothwangl