Ærzte
Steiermark
 || 03|2013
23
BUCH
psychosomatische Seite der
Medizin wird chronisch un-
terdrückt und missachtet. Sie
ist so ein großer Teil in der
Medizin, dass sie bei adäqua-
tem Wahrnehmen eine inten-
sive Konkurrenz gegenüber
den etablierten Disziplinen
darstellen würde. Wir müs-
sen uns vor Augen führen,
dass mindestens ein Drittel
der PatientInnen bei einem
Allgemeinmediziner an psy-
chischen Problemen leiden,
seien es Depressionen, Angst-
störungen, somatoforme Be-
schwerden, Abhängigkeitser-
krankungen, Traumafolge-
störungen etc. Entsprechend
gerecht wäre es, ein Drittel der
Ausbildung auf diesen Teil der
Medizin zu legen. In der Rea-
lität stehen in der Ausbildung
zum Allgemeinmediziner
zwei Monate Psychiatrie oder
zwei Monate Neurologie zur
Wahl. Es ist klar, dass damit
keine ausreichende Kompe-
tenz erworben werden kann.
Manfred Stelzig:
Krank ohne
Befund. Ecowin
Verlag 2013.
ISBN: 978-
3711000286,
EUR 21,90.
„Manche Bücher will man schreiben,
andere soll man schreiben, aber
dieses musste ich schreiben.“
Manfred Stelzig
Auch im Abrechnungssystem
über die Krankenkasse müsste
die psychosomatische und
psychiatrische Medizin einen
entsprechenden Stellenwert
eingeräumt bekommen. Auch
daraus würde automatisch
eine Konkurrenzsituation er-
wachsen. Ich war bei einigen
Sitzungen dabei, bei denen
über die Höhe der einzelnen
Positionen zur Abrechnung
mit den Sozialversicherungs-
trägern diskutiert wurde. Bei
dem Bereich Psychomedizin
wurde sehr rasch weiter ge-
blättert.
Ihr Buch ist, so wie ich es lese,
mehr eine Aufklärungsschrift
als eine Anklagschrift. Wenn
wir aber den Begriff Anklage
verwenden, wen oder was kla-
gen Sie an?
Stelzig:
Es ist beides. Es soll
eine Aufklärungsschrift sein,
aber auch eine Anklage. Eine
Anklage deswegen, weil das
Problem evident ist und von
vielen Mitspielern nicht ge-
löst wird. Die Ärztinnen und
Ärzte sind nicht bereit, mit
Patientinnen und Patienten,
die unter Schmerzen oder
organischen Funktionsstö-
rungen leiden, ohne dass eine
ausreichende organische Er-
klärung gefunden werden
kann, das notwendige Hin-
tergrundgespräch zu führen.
Es muss gesichert werden,
dass in diesem Gespräch ein
gemeinsames Verständnis
zwischen Ärztin bzw. Arzt
und Patientin bzw. Patient
hergestellt werden kann, ob
der Auslöser eine Konflikt-
situation, eine chronische
Überforderung, finanzielle
Nöte, eine Traumafolgestö-
rung, eine Depression oder
eine Angststörung ist, bei
denen vorwiegend die kör-
perlichen Beschwerden im
Vordergrund stehen. Aus die-
ser gemeinsamen Erkennt-
nis muss die Weiche gestellt
werden zu einem neuen Be-
handlungsplan, zu einer psy-
chopharmakologischen Ein-
stellung und einer psycho-
therapeutischen Behandlung.
Eine Anklage ist dieses Buch
auch insofern, als die betrof-
fenen Patientinnen und Pati-
enten sich oft ebenfalls gegen
die psychische Diagnose zur
Wehr setzen. Es gibt kein all-
gemeines Verständnis dafür,
dass dieses Phänomen exi-
stiert. So fordern viele Patien-
tinnen und Patienten eine or-
ganische Erklärung ein, weil
sie sich sonst „ins Psychoeck“
abgeschoben fühlen. Auch
die Sozialversicherungsträ-
ger kann ich nicht von der
Anklage verschonen, da die
Psychomedizin viel zu wenig
honoriert wird. Eine Ärz-
tin bzw. ein Arzt, die oder
der die psychosomatischen
Abklärungen so ernst neh-
men würde, wie es notwendig
wäre, müsste einige Stunden
pro Tag diese Hintergrundge-
spräche führen. Da diese je-
doch kaum honoriert werden,
würde sie oder er die Praxis
über kurz oder lang in den
Konkurs führen.
Was im Medizinsystem jeden-
falls rationiert wird, ist die Zeit
für die Behandlung – egal, ob
es sich um die sprichwörtliche
Drei-Minuten-Medizin in der
Praxis handelt oder die para-
digmatische Forderung nach
Senkung der Verweildauer in
Krankenhäusern. Wie lassen
sich Ihre Forderungen in dieses
System integrieren?
Stelzig:
Die Psychomedi-
zin braucht Zeit, und es ist
notwendig, dass man die-
se Zeit in der Zukunft in
unserem System zur Verfü-
gung stellt. Sonst wird die
Medizin unmenschlich und
der psychische Anteil bleibt
unbeleuchtet. Damit ist dem
Doktorhopping, dem Syn-
drom der dicken Akte, dem
Wandern von Spezialist zu
Spezialist und damit einer
ungeheuren Geldverschwen-
dung Tür und Tor geöffnet.
Von vielen Journalisten in
Publikumsmedien wurde das
Buch als Vorwurf gegen Ihre
Kolleginnen und Kollegen
gelesen. Welche Reaktionen
haben sie von dieser Seite
bekommen? Wie gehen Sie
damit um?
Stelzig:
Von meinen Kolle-
ginnen und Kollegen habe
ich, bis auf wenige Ausnah-
men, durchaus positive Rück-
meldungen. Die Form der
Medizin, wie sie jetzt uns al-
len aufgedrückt wird, ist auch
für die meisten Kolleginnen
und Kollegen unbefriedigend.
1...,13,14,15,16,17,18,19,20,21,22 24,25,26,27,28,29,30,31,32,33,...60