Schweigen ist Gold
Ärztliche Diskretion gehört untrennbar zum Beruf – über den gesamten Lebenszyklus der Patientinnen und Patienten ebenso wie über ihre Akten.
U. Jungmeier-Scholz
Konfetti sind normalerweise harmlose Attribute ausgelassener Faschingspartys – doch bei den heurigen Karnevalsfestivitäten im deutschen Dermbach staunten die Feiernden nicht schlecht: Die Papierschnipsel, die auf sie herabregneten, waren geschredderte Patientenakten und Notdienst-Einsatzpläne von Ärzten. Namen und Diagnosen waren zu erkennen.
Derart gravierende Verletzungen der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht sind selten, kleinere Indiskretionen – auch von Seiten der Patienten – jedoch gang und gäbe. Da werden bei der Anmeldung in der Ordination bereits die Beschwerden laut und deutlich geschildert oder Wartende hören bei Telefonauskünften mit. Per E-Mail wird ein Laborbefund übermittelt.
Eine kürzlich durchgeführte Stichprobe der Stiftung Warentest in 30 deutschen Ordinationen hat ergeben, dass in jeder zweiten Ordination Datenschutzverletzungen an der Tagesordnung sind: Ohne die Identität der/des Anrufenden überprüfen zu können, wurden telefonische Auskünfte gegeben (in acht von zehn Fällen), per E-Mail Informationen unverschlüsselt an Fantasieadressen verschickt (in vier Fällen) und in drei von zehn Praxen konnten die Testpersonen intime Details mithören.
Ärztin/Arzt haftet für AssistentInnen
In Österreich kein Problem? Indiskretionen sind auch hierzulande keine Seltenheit.
Böse Absicht steckt so gut wie nie dahinter. „In vielen Ordination wurde die Diskretion baulich nicht mitgeplant“, vermutet Heimo Korber, Allgemeinmediziner in St. Margarethen bei Knittelfeld und Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer Steiermark. „Aus Platzmangel. In zahlreichen zur Praxis umgebauten Wohnungen sitzen die Wartenden im selben Raum, in dem auch die Anmeldung stattfindet.“ Bei Korber sind die beiden Bereiche durch eine geschlossen zu haltende Türe getrennt. Allerdings braucht es bei seiner Patientenfrequenz zwei Anmeldeschalter – und da kann schon einmal die eine mithören, was der andere gerade sagt. „Meine Ordinationsassistentinnen sind darin geschult, sich auf Administratives zu beschränken. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann aber auch ich nicht garantieren, dass aus meiner Ordination keinerlei Information dringt.“
Per Gesetz unterliegen übrigens auch die MitarbeiterInnen der Ordination der Verschwiegenheitspflicht. „Dabei trägt die Ärztin oder der Arzt auch die Verantwortung für sie, wenn keine organisatorischen Maßnahmen zum Geheimnisschutz getroffen wurden“, erklärt Medizinrechtsexperte Michael Halmich. Diskretes Personal handelt also auch im Interesse der ÄrztInnen.
Denn die Verschwiegenheitspflicht von Angehörigen der Gesundheitsberufe – insbesondere ÄrztInnen – ist nicht irgendein Detail, sondern die Wurzel aller PatientInnenrechte und reicht bis Hippokrates zurück. Sie ist für das Vertrauensverhältnis unerlässlich und so wichtig, dass sie gleich mehrfach rechtlich fixiert wurde: Im Verfassungsrecht, Krankenanstaltenrecht, Strafrecht, Zivilrecht und im ärztlichen Berufsrecht.
Diskretion versus Service
Am Telefon gibt es bei Korber deshalb nur gefilterte Auskünfte, beispielsweise eine Entwarnung nach Einlangen eines radiologischen Befundes: „Nichts Besorgnis Erregendes.“ Der Rest wird in der persönlichen Befundbesprechung mit dem Arzt abgehandelt. Oft zum Missfallen der PatientInnen, die eine sofortige telefonische Auskunft als Serviceleistung sehen – ein Missverständnis, das auch in der Ärzteschaft verbreitet ist.
Durchlässiger ist der Informationskanal E-Mail. Auch da heißt es grundsätzlich, der Laborbefund müsse persönlich abgeholt werden, aber wenn die Patientin oder der Patient in der Ordination bekannt und es sehr dringend ist …
Konfettidesaster wie in Dermbach kann es allerdings keines geben, denn die Korber´sche Praxis bearbeitet und archiviert Patientenakten ausschließlich elektronisch. Damit niemand am Bildschirm mitlesen kann, musste der einrichtende Tischler extra Holzkonstruktionen darum herum bauen. Die Ultima Ratio der Diskretion ist der Hintereingang der Praxis. „Manche bitten darum, ungesehen eingelassen zu werden“, erzählt Korber. Der Wunsch wird erfüllt.
Keiner beschwert sich
Aus der Tatsache, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht immer zu hundert Prozent eingehalten wird, lässt sich jedoch noch nicht schließen, dass dies ein sehr problematischer Bereich sei. Wo kein Kläger, da kein Richter; handelt es sich doch um ein Privatanklagedelikt (siehe unten).
Zwar ist der Patientenschaft die Diskretion sehr wichtig, wie eine Umfrage des Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein zeigt: Über 88 Prozent von mehr als 600 Befragten würden einen Arzt nicht konsultieren, wenn sie Zweifel an seiner Diskretion hätten. Auch wenn einige dieser Personen selbst unbeschwert an der Bushaltestelle von ihren Leiden erzählen oder Details zu ihrem Gesundheitszustand auf Facebook posten. „Man muss als Arzt zumindest die Möglichkeit für einen diskreten Umgang schaffen“, betont Korber. „Auf die Einhaltung hat dann auch der mündige Patient selbst zu achten.“
Will ein Arzt wissen, wie es in seiner Ordination um den Datenschutz steht, kann er das im Internet via Selbstcheck herausfinden, unter https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/medizin/arztpraxis/Selbstcheck_Arztpraxen.pdf.
Einschlägige Beschwerden oder gar Gerichtsverfahren wegen Verletzung der Verschwiegenheitspflicht kommen relativ selten von: „In den zehn Jahren, die ich nun Mitglied der Ethik- und Beschwerdekommission der steirischen Ärztekammer bin, kann ich mich nur an einen Fall erinnern“, resümiert Ronald Kurz, der derzeitige Leiter der Kommission. „Viel öfter beschweren sich Patienten über unzureichende Kommunikation.“
Mit dem Leben bezahlt
Als Musterbeispiel für gelungene Verschwiegenheit sieht Kurz die Vorgehensweise nach dem Unfall des Formel-1-Weltmeisters Michael Schumacher. Am anderen Ende der Skala steht wohl der Fall der britischen Krankenschwester Jacintha Saldana, über die Informationen zum Befinden der damals schwangeren Herzogin Kate von Cambridge nach außen gedrungen sind – vermeintlich an Mitglieder der königlichen Familie, in Wahrheit an zwei australische Radiomoderatoren. Deutlicher lässt sich gar nicht zeigen, wie aus wohlgemeinter Serviceorientierung eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht resultieren kann. Saldana hat sich kurz darauf das Leben genommen.
Medienrechtsexperte Halmich ortet einen zunehmenden Druck auf die Ärzteschaft, Informationen preiszugeben. Und das beileibe nicht nur von Seiten besorgter Angehöriger – die übrigens nicht automatisch Anspruch auf Beantwortung ihrer Fragen haben. Halmich bewertet vor allem Nachfragen von Arbeitgebern sowie von Versicherungen als problematisch.
Auch hat nicht jede Behörde, die um Auskunft bittet, eine Berechtigung dazu. „Zurückhaltung ist das oberste Gebot“, betont der Medizinrechtsexperte. „In all diesen Fällen ist mit den Patienten Rücksprache zu halten, bevor Daten weitergeleitet werden.“ PatientInnen, die voreilig einen Versicherungsvertrag unterschrieben und im Kleingedruckten die Offenlegung ihrer Gesundheitsdaten erlaubt haben, können diese Zustimmung jederzeit widerrufen.
KAGes übt sich in Diskretion
Nicht nur in Ordinationen, auch in Krankenhäusern ist Diskretion ein Thema. „Vertrauliche Gespräche, insbesondere Anamnese, Diagnose und Aufklärung werden in Diskretionszonen abgehalten“, gibt die KAGes bekannt. „Dies sind Ärztedienstzimmer und Behandlungsräume oder gesondert gekennzeichnete Besprechungsräume.“
Bei Visiten werde zwischen den allgemeinen Fragen zum Befinden und heiklen Gesprächen unterschieden. Die Letztgenannten fänden in den Diskretionszonen statt. Gesundheitsdaten würden an andere Gesundheitsdiensteanbieter „zwingend in verschlüsselter Form“ elektronisch weitergegeben; andere Berechtigte erhalten einen klassischen Brief per Post. Die Lagerung von Krankengeschichten erfolgt elektronisch auf gesicherten Servern. Die Papierakten werden entweder vor Ort oder durch beauftragte Unternehmen unter Aufsicht vernichtet. Seit mehr als zehn Jahren bewährt sich das Passwortsystem der KAGes: Stationär Aufgenommene geben ein Schlüsselwort bekannt und nur wer darüber verfügt, bekommt Auskünfte.
Das beste System kann jedoch nur so verlässlich sein wie die einzelnen MitarbeiterInnen: Ein Patient berichtet, in einem Landspital namentlich zur Koloskopie aufgerufen worden zu sein …
Indirekt personenbezogen
Besonders gesichert werden die Daten von PatientInnen, die an medizinischen Studien teilnehmen, wie Josef Haas, Vorsitzender der Ethikkommission am Grazer Klinikum erklärt: „Lediglich der Arzt kennt die Identität, an die beauftragende Firma werden die Daten nur indirekt personenbezogen übermittelt. Für Auditzwecke dürfen Quelldaten eingesehen werden; ausschließlich von befugten Personen unter besonderer Verschwiegenheitspflicht. Auch diese dürfen sich nicht einfach selbst an den PC setzen.“
Bei Patientenakten bezieht sich die ärztliche Verschwiegenheitspflicht auf den gesamten Lebenszyklus – von der Erstaufnahme der Daten bis hin zur Entsorgung des Papiers oder der Dateien. Informationen zu Patientinnen und Patienten müssen ÄrztInnen sogar über deren Tod hinaus für sich behalten.
https://www.aekstmk.or.at/50?articleId=171&referer=%2Fcms.php%3FsearchString%3Dschweigepflicht
Von der Verschwiegenheit entbunden
Die einfachste Variante, eine Ärztin oder einen Arzt von ihrer Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, wird im § 54 des ärztlichen Berufsrechts dargelegt: Die betroffene Person entbindet die Ärztin/den Arzt selbst. Zur Sicherheit sollten sich ÄrztInnen das in heiklen Fällen schriftlich bestätigen lassen, Formvorschrift gibt es keine dafür.
Der/die PatientIn muss einsichts- und urteilsfähig sein (im psychiatrischen Bereich sorgfältig abzuwägen). Das bedeutet in der österreichischen Rechtspraxis, dass sie oder er das 14. Lebensjahr vollendet haben sollte – nach oben hin gibt es keine Altersgrenze. In den meisten Fällen erfolgt eine Entbindung von der Schweigepflicht auf einen bestimmten Inhalt bezogen und einen ausgewählten Personenkreis beschränkt.
Erlaubt ist es, gesetzlichen Vertretern – das sind befugte Angehörigenvertreter, Obsorgeberechtigte und Sachwalter, deren Wirkungskreis medizinische Belange umschließt – Auskünfte zu geben. Allerdings dürfen bereits Jugendliche in psychotherapeutischen, psychiatrischen und gynäkologischen Kontexten um Verschwiegenheit bitten. Im Ermessen der Ärztin bzw. des Arztes liegt dann die Entscheidung zwischen Geheimhaltung und den Interessen der Obsorgeausübung. Im Zweifelsfall überwiegt ein berechtigter Wunsch der/des einsichts- und urteilsfähigen Jugendlichen. Bei meldepflichtigen Erkrankungen muss die Verschwiegenheitspflicht durchbrochen werden. Auch bei Verdacht auf Fremdverschulden (Körperverletzung) sind ÄrztInnen zur Anzeige verpflichtet. Bei Minderjährigen kann die Anzeige (vorerst) unterbleiben, sofern das dem Kindeswohl entspricht und eine Meldung an den Kinder- und Jugendhilfeträger erfolgt.
Im Strafprozess muss der Arzt aussagen – außer er ist Psychiater oder wenn sich der Arzt damit selbst belasten würde. Bei anderen Gerichtsverfahren ist abzuwägen, was im Interesse des Patienten ist.
Rechtsfolgen der Indiskretion
Damit ein Arzt oder eine Ärztin auf Schadenersatz verklagt werden kann, muss der eingetretene Schaden bezifferbar sein. Wird beispielsweise einem Betroffenen der Führerschein aufgrund einer unbegründeten Indiskretion des Arztes entzogen und er verliert dadurch seinen Job, kann der geforderte Schadenersatz entsprechend hoch sein.
Eine strafrechtliche Verfolgung von ÄrztInnen ist nach § 121 StGB möglich (es droht Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen), allerdings handelt es sich um ein Privatanklagedelikt, das heißt, der Patient muss selbst aktiv werden.
Indiskretion ist auch ein Verwaltungstatbestand laut Ärztegesetz – doppelt bestraft werden darf jedoch niemand. Weiters zu rechnen ist mit einem Disziplinarverfahren.
Die Ärztekammer berät in Zweifelsfällen und bietet Fortbildungen zur Verschwiegenheitspflicht an. „Dort bekommt man so etwas wie ein rechtlich fundiertes Bauchgefühl“, erklärt Medizinrechtsexperte Michael Halmich.
„Medienrechtsexperte Halmich ortet einen zunehmenden Druck auf die Ärzteschaft, Informationen preiszugeben.“
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