Über die Ordination zu Wolke 9

Die meisten Menschen wünschen sich auch in den späten Jahren ein aktives Sexualleben. Der Ärzteschaft kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, bei kontrasexuellen Grunderkrankungen oder psychosozialen Störfaktoren hellhörig zu werden und ihre PatientInnen aktiv darauf anzusprechen. Bei den Grazer Fortbildungstagen ist „Sexualität im Alter“ Thema einer Morgenvorlesung.

U. Jungmeier-Scholz

„Wir dürfen ältere Menschen nicht ins Asexuelle abschieben“, warnt die Wiener Sexualmedizinerin und Leiterin der Akademie für Sexuelle Gesundheit, Elia Bragagna. Seit einigen Jahren betreibt Bragagna auch eine sexualmedizinische Praxis in Graz. Denn das Ausblenden sexueller Bedürfnisse älterer Menschen widerspreche ganz klar deren Bedürfnissen. Und sogar den Menschenrechten. Schon im Jahr 2000 hielt auch die WHO fest, dass sexuelle Gesundheit ein Teil der Gesamtgesundheit ist und folglich Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit sein sollte. Aber ist Sex für ältere Menschen wirklich noch ein Thema? Die Antwort darauf lautet eindeutig ja. In einer Befragung gaben weniger als ein Fünftel der Menschen jenseits der 70 an, ihr sexuelles Verlangen sei sehr niedrig bis gar nicht vorhanden. Im siebenten Lebensjahrzehnt waren es nicht einmal zehn Prozent. Nicht nur das Verlangen ist Teil der Lebensrealität später Jahre: Mehr als die Hälfte der in einer anderen Studie befragten 75- bis 85-Jährigen bekannte sich dazu, in den vergangenen zwei bis drei Monaten sexuell aktiv gewesen zu sein, womit neben Geschlechtsverkehr auch Oralsex und Masturbation gemeint waren.
Auf Bragagnas sexualmedizinischer Hotline kontaktierte sie beispielsweise eine über 80-jährige Dame mit der Frage, wie sie ihren kürzlich ins Pflegeheim verlegten Ehemann unter den veränderten Bedingungen sexuell befriedigen könne – denn sie wisse, wie wichtig ihm das sei. „Der Wunsch nach Körperkontakt und Sexualität ist vorhanden, aber je älter Menschen sind, desto mehr tabu sind diese Bedürfnisse“, resümiert Bragagna. Obwohl gerade mit fortschreitenden Jahren eine funktionierende Sexualität nicht selten medizinischer – und manchmal auch psychosozialer – Hilfestellung und daher offener Gespräche bedarf.

Sich Veränderungen anpassen

Zum einen verändern sich die Sexualorgane durch die veränderte Hormonsituation, was bei den Betroffenen durchaus zu Irritation führt. Die genitale Durchblutung nimmt ab, die Schleimhaut der Vagina wird dünner und rissanfälliger, eine Erektion schwieriger. Da ist es umso wichtiger, zunächst mit dem Partner oder der Partnerin über veränderte intime Bedürfnisse zu sprechen – und möglicherweise mit einem Arzt oder einer Ärztin des Vertrauens.
„Jede zweite Frau, die beim Geschlechtsverkehr Schmerzen hat, schläft trotzdem mit ihrem Partner“, berichtet Bragagna. Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sei es, den Betroffenen – bevor es zu diesen unangenehmen Situationen kommt – zu erklären, wie sie sich den ganz normalen Veränderungen des Körpers anpassen können. Die Patientinnen und Patienten entscheiden dann ohnehin selbst, welche Maßnahme sie ergreifen wollen.
Zum anderen nehmen gerade mit zunehmendem Alter auch jene Grunderkrankungen zu, die zu Sexualstörungen führen (können): Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, onkologische, aber auch psychische Erkrankungen. Mancher Herzinfarkt hätte vielleicht sogar verhindert werden können, hätte es der Patient gewagt, mit einem Arzt über seine Erektionsprobleme zu sprechen. „Erektionsstörungen treten als Vorboten meist zwei bis drei Jahre vor einer Angina pectoris auf und drei bis acht Jahre vor dem Infarkt“, erklärt die Sexualmedizinerin. Auch die Gabe potentiell kontrasexueller Medikamente wird mit zunehmendem Alter häufiger. Schon bei der Verschreibung lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass jemand nach regelmäßiger Einnahme Probleme mit seiner Sexualfunktion bekommen wird, sofern er oder sie nicht aktiv gegensteuert.

Leid verhindern

Ärztinnen und Ärzte können hier viel Leid verhindern, indem sie ihre Patientinnen und Patienten auf mögliche sexuelle Veränderungen ansprechen – sowohl bei der Diagnose einer kritischen Grunderkrankung als auch beim Verschreiben eines entsprechenden Medikamentes.

Die Menschen wollen informiert werden – das bestätigen auch jene Patientinnen und Patienten, die annehmen, dass sie ein derartiges Gespräch verlegen machen würde. Aber nicht selten zögern die Ärzte, sexuelle Themen anzusprechen, weil sie Hemmungen haben, in die Intimsphäre ihrer Patientinnen und Patienten einzudringen. Dabei geht es um sexuelle Gesundheit – ein ureigenes Thema der Ärzteschaft, wie die WHO klar festgestellt hat.
Bragagna setzt darauf, vorsichtig verbale Brücken wie die folgende zu bauen: „Es könnte sein, dass sich bei Ihnen aufgrund Ihres Diabetes – oder aufgrund der Einnahme dieses Medikaments – eine Sexualstörung entwickelt. Wenn das der Fall sein sollte, können Sie sich gerne an mich wenden, damit wir gemeinsam eine Lösung suchen.“ Selbst bei Erstgesprächen empfiehlt sie Ärztinnen und Ärzten, routinemäßig zu erwähnen, dass sie auch Ansprechpartner für sexuelle Gesundheit sind.

Ärzte teils unsicher

Dieses Angebot werden allerdings nur Ärztinnen und Ärzte aussprechen, die sich im Bereich Sexualmedizin sattelfest fühlen. Leider komme der Sexualmedizin in der Ärzteausbildung nur eine marginale Rolle zu, kritisiert Bragagna. Immerhin hat die ÖÄK bereits signalisiert, bei der nächsten anstehenden Überarbeitung der Ausbildungsverordnung auch der Sexualmedizin einen Platz einzuräumen. Das Gesundheitsministerium veranstaltete im Frühsommer eine Tagung zum Thema und im September findet die erste sexualmedizinische Woche der Österreichischen Akademie der Ärzte statt, die mit einem ÖÄK-Diplom abschließt. Positive Entwicklungen. „Aber auch schon ein vierstündiger Grundkurs ist ein guter Anfang“, betont Bragagna. Es gehe ja oft darum, bestehendes medizinisches Wissen optimal zu vernetzen.
In einer Befragung von mehr als 400 FortbildungsteilnehmerInnen – also speziell interessierten ÄrztInnen – gab die Hälfte an, dass es Wissensdefizite seien, die sie vom Führen eines sexualmedizinischen Gesprächs abhielten, gefolgt von Zeitmangel (48 Prozent) und dem Fehlen eines entsprechenden Netzwerkes, an das sie PatientInnen weitervermitteln könnten (28 Prozent).
Direkt gefragt, ob sie über sexualmedizinisches Wissen verfügten, antworteten 70 Prozent mit „etwas“ und 26 Prozent mit „keines“. Nur vier Prozent fühlten sich fachlich ausreichend kompetent. Auch beim Erkennen potentiell kontrasexueller Medikation herrscht viel Unsicherheit: Nur ein gutes Viertel der Befragten traut sich zu, kritische Medikamente zu erkennen. Der Bedarf für sexualmedizinische Fortbildung ist also zweifellos gegeben.

Bei den Grazer Fortbildungstagen im Oktober hält Elia Bragagna am Freitag, dem 14.10., von 8.00 bis 8.45 Uhr eine Morgenvorlesung zum Thema „Fifty Shades of Grey – macht Sexualität im Alter glücklich?“ und am Do. 13. Oktober findet von 13.00 bis 15.15 Uhr ein Mittagsseminar (Sem. Nr. 36) mit dem Titel „Die 10 häufigsten Fragen an die Sexualmedizin in der Praxis“ mit Dr. Elia Bragagna statt.
Anmeldungen unter www.grazerfortbildungstage.at

 

Fotos: Fotolia, beigestellt

Grazer Straße 50a1
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