„Die Politik verheddert sich im Mikro-Management“

Ursula Schmidt-Erfurth ist Leiterin der ältesten Augenklinik der Welt und Vizepräsidentin des Vordenkerclubs Forum Alpbach. Ein Gespräch über Sinn und Unsinn des Datensammelns, Zwei-Klassen-Medizin und die Neigung der Politik zu einfachen Lösungen, die es nur leider nicht gibt.

Martin Novak

AERZTE Steiermark: Frau Professor Schmidt-Erfurth, die Alpbacher Gesundheitsgespräche haben sich in diesem Jahr dem Thema Digitalisierung gewidmet. Warum?
Schmidt-Erfurth: Das zentrale Thema der Gesundheitsgespräche ist Aufklärung, dieser wichtige Begriff steht als Oberbegriff über allen Gesprächen. Aufklärung über die Möglichkeiten, Machbarkeiten aber auch Risiken und Bedenken, die jede Weiterentwicklung begleiten muss. Sie sind das Grundthema in der Medizin, wo es ja um ganz vitale Themen geht. Es gibt riesige Clouds an Daten. Der Begriff Cloud, Wolke, gibt  ja schon eine gewisse Unschärfe vor. Es zeigt, dass es viel einzelne Informationsstücke gibt, zum Beispiel in der Genetik, wo der genetische Code komplett aufgeschlüsselt worden ist und wo man schon weiß, was man tun muss um den genetischen Code zu verändern, bis zu Lifetracking-Daten zur persönlichen Lebensführung, die wieder eine neue Wolke beisteuern, die das Individuum vermisst. Die Frage ist aber bei jeder Neuvermessung, was will man damit anfangen und was ist überhaupt sinnvoll. Von dem vielen, was machbar ist, wird nur einiges nützlich sein.

AERZTE Steiermark: Auf der einen Seite ist es die Digitalisierung im professionellen Bereich, auf der anderen Seite sind es die Datensammlungen, die Individuen über sich selbst anlegen. Erfordern zweitere nicht eine völlig neue Form der Selbstverantwortung, die auch mit Wissen gepaart sein muss, um die Konsequenzen ermessen zu können – Stichwort ‚health literacy‘?
Schmidt-Erfurth: Kompetenz kann man nur erwerben, wenn sie mit Wissen kombiniert ist. Deswegen ist es extrem wichtig, dass die Informationen, die gesammelt werden, auch verstanden werden, dass keine Missverständnisse entstehen. Nur dann kann man auch die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Es gibt auch in der modernen Medizin viele “Missverständnisse“. Alte Mythen werden ausgeräumt, gleichzeitig entstehen aber neue Mythen. Ein besonders griffiger alter Mythos ist der Body Mass Index, wo man gemeint hat, man weiß genau, in welcher Kategorie sich ein Mensch befindet. Wer einen BMI von mehr als 30 hatte, galt als fettleibig und pathologisch. Jetzt hat man festgestellt, dass die meisten dieser Menschen in ihren Vitalparametern – Herz, Leber, Niere – völlig normal sind. In Amerika betrifft das 20 Millionen Menschen. Die galten bis zu dem Zeitpunkt, als diese große Studie herausgekommen ist, als im höchsten Maß gefährdet und werden stigmatisiert. Heute weiß man, dass das gar nicht Fall ist. Neue Kategorien entstehen, indem man ganz viele Informationen sammelt und schnell verleitet ist, aus diesen Informationen vorschnelle Schlüsse zu ziehen und die Bürger in Kategorien einzuteilen. Da sind wir in einem langen Lernprozess. Die Datensammlung geht immer schnell, aber aus den Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist etwas, das langsam geht, was einer ständigen Überprüfung des Systems bedarf, damit der einzelne wirklich zum mündigen Bürger und aufgeklärten Patienten wird, der weiß, was er mit seinen eigenen individuellen Daten anfangen soll und was er medizinisch zulassen soll.

AERZTE Steiermark: Gibt es da nicht auch den Druck, Studien mit handfesten Ergebnissen abschließen zu müssen?
Schmidt-Erfurth: Der Druck ist da, aber Neuigkeiten interessieren immer besonders, wenn sie provokant sind und man daraus einen simplen Schluss ziehen kann. Aber simple Schlüsse in der komplexen Medizin sind eben nicht leicht verfügbar. Und der Neuigkeitsdruck, unter dem die Welt steht, gerade in der Medizin, besteht von allen Seiten. Die Industrie will mit neuen Blockbustern herauskommen, die Wissenschafter wollen bahnbrechende, meistzitierte Artikel veröffentlichen. Sie wollen mit Studien herauskommen, die die größten Wendepunkte bedeuten. Die wissenschaftlichen Journale haben auch ein Interesse, möglichst vielgelesene Artikel zu produzieren, jeder Forscher will wiederum Forschungsgelder bekommen. Die Ärzte wollen Richtlinien herausgeben, die vom Patienten möglichst frequentiert werden und wollen selbst eine möglichst große Rolle in der Betreuung von Menschen haben. Das heißt, die gesamt Community mit allen ihren Teilnehmern ist daran interessiert, möglichst aufzuschrecken.

AERZTE Steiermark: Wobei die Technik auch hilft, neue und alte Mythen noch schneller weiterzuverbreiten? So stand es auch im Alpbach-Programm 2016.
Schmidt-Erfurth: Es entstehen auch immer Mythen, die den Erwartungen entsprechen. Die Erwartungen, die man hatte, als man den genetischen Code geknackt hat, war, dass man Krankheiten nicht nur besser verstehen kann, sondern die Erwartung war, dass man ein verbessertes genetisches Material schaffen kann. Es gibt ja diese neue Methode namens CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats, Anm. D. Red.), mit der man punktgenau genetische Informationen manipulieren und damit sozusagen bessere Lebewesen schaffen kann. Das ist natürlich ein verführerischer Gedanke, wie es Nobelpreisträger Craig Mello formulierte, durch eine genetische Manipulation Wohlstandserkrankungen nicht nur heilen, sondern dafür sorgen zu können, dass sie gar nicht auftreten. Das sind Hirngespinste, die von der Wissenschaft geweckt werden und die unter den Patienten weitergetragen werden.

AERZTE Steiermark: Steigt die Gesundheitskompetenz bzw. ‚health literacy‘ mit der Entwicklung der Wissenschaft?
Schmidt-Erfurth: Ich glaube, man hat schon große Einsichten gewonnen, man weiß, dass gesunde Ernährung an sich einen Wert hat, der nicht nur ein metaphysischer Wert ist, sondern der sich auch in Körperfunktionen niederschlägt. Man weiß, wie schädlich Rauchen ist. Aber schon an dem Beispiel sieht man, dass Wissen alleine selten zu einer Verhaltensänderung führt. Allerdings kann es die Gesellschaft aufnehmen, wie es ja auch beim Rauchverbot in öffentlichen Räumen der Fall war. Das ist schon etwas, das insgesamt der Gesundheitsentwicklung entgegenkommt.

AERZTE Steiermark: Im Jahr 2015 war Zwei-Klassen-Medizin das Thema der Alpbacher Gesundheitsgespräche. Sie haben dazu in einem Standard-Interview gesagt, Zwei-Klassen-Medizin gibt es längst. Dennoch ist es nahezu ein politisches Paradigma, diese Zwei-Klassen-Medizin verhindern zu wollen.
Schmidt-Erfurth: Man muss dafür sorgen, dass in der medizinischen Grundversorgung möglichst alles vorhanden ist, was die Patienten sich ansonsten aus der Privatmedizin holen. Da geht es um Wartezeiten, Arzttermine, Operationen. Es geht um Zugang zu bestimmten Untersuchungen, die man nachweislich in der selbst bezahlten Medizin häufig bekommt. Ob „häufig“ auch besser ist, ist eine andere Frage, denn wenn die Zwei-Klassen-Medizin abgesehen von ihrer sozioökonomischen Ungerechtigkeit dazu führen würde, dass die Medizin und die Ergebnisse besser werden, hätte man ja ein Argument dafür. Aber es ist fraglich, ob es so ist. Gerade in der hoch technologisierten Medizin wird immer mehr angeboten, weil der Markt es gerne aufnimmt. Aber ob mit mehr diagnostischen Maßnahmen und mehr Eingriffen, zum Beispiel Arthroskopien, die Patienten besser leben, ist mehr als fraglich.

AERZTE Steiermark: Es gibt ja zwei Möglichkeiten, die Zwei-Klassen-Medizin einzudämmen. Man kann den Zugang zu privat finanzierten Leistungen einschränken, die zweite wäre, die Grundversorgung umfassend zu verbessern. Zweiteres scheinen wir uns nicht leisten zu können oder zu wollen. Ersteres ist in einer halbwegs freien Marktwirtschaft kaum umsetzbar. Welchen Weg gibt es?
Schmidt-Erfurth: Es kann nur einen Weg der Effizienz geben. Man muss die Basismedizin sinnvoller machen. Wir wissen, dass in die Medizin sehr viel Geld fließt. Wir wissen, dass dieses Geld nicht immer für sinnvolle Maßnahmen verwendet wird. Es geht darum, die Wirksamkeit zu überprüfen, damit man mit dem vielen Geld, das in der Staatsmedizin verschwindet, mehr Sinnvolles anfangen kann. Eine Chance besteht darin, das Bedürfnis zu reduzieren, sich jene Dinge, die man in der Grundversorgung nicht bekommt, aus der Privatmedizin zu holen. Man kann in einer freien Marktwirtschaft natürlich nichts verbieten, aber man kann Bedarf und Bedürfnisse sinnvoll steuern. Wenn man den Bedarf in der Basismedizin gut abdecken kann, wird sich eine Zwei-Klassen-Medizin weniger lohnen.

AERZTE Steiermark: Sie haben jetzt ganz bewusst zwischen Bedarf und Bedürfnissen unterschieden. Zur Freiheit gehören aber auch Bedürfnisse.
Schmidt-Erfurth: Bedürfnisse sind unterschiedlich, dafür muss es auch eine Existenzberechtigung geben. Die Gesellschaft ist nicht homogen, es gibt verschiedene Schichten, die sicher nicht immer eine gerechte Basis haben. Aber das führt dazu, dass nicht für jeden das Gleiche das Richtige ist. Ungleiche Menschen haben ungleiche Bedürfnisse und brauchen angepasste Versorgungen. Das muss man wahrnehmen. Außerdem muss man wahrnehmen, dass die Medizin nur ein kleiner Teilbereich der gesamten Gesellschaftspolitik ist und dass Mediziner nur für fünf Prozent des medizinischen Fortschritts selber zuständig sind. Zu 95 Prozent ist es die Gesellschaft. Das ist allein daran abzulesen, was sanitäre Maßnahmen bewirkt haben, um Infektionskrankheiten einzuschränken. Es gibt so viel weniger Tote durch Epidemien. Allein das Händewaschen verhindert, dass viele Krankheiten überhaupt weitergegeben werden. Impfungen haben eine viel größere Wirkung als Krebs-Screening-Programme. Das zeigt, dass die Medizin ein Teilbereich der Gesundheitsversorgung ist, aber ein viel größerer Teil liegt in der Gesamtpolitik. Bessere Bildung ist ein anderes Beispiel.

AERZTE Steiermark: Das nächstjährige Programm in Alpbach steht unter dem Motto „Konflikt und Kooperation“. Das ist ein für den Gesundheitsbereich nicht unpassendes Motiv …
Schmidt-Erfurth: … es passt jedes Motiv immer auch für den Gesundheitsbereich, weil er in so viele Sparten des Lebens hineinreicht … „health in all policies“.

AERZTE Steiermark: In Österreich und anderswo, heißt es, gibt es im Gesundheitsbereich recht viel Konflikt und vielleicht manchmal zu wenig Kooperation …
Schmidt-Erfurth: Es gibt sehr viele Interessenkonflikte. Interessenkonflikte sind in der Medizin ein großes Thema. Allein, wenn man das Wort wörtlich nimmt – conflict of interest – geht es z. B. darum, dass die Zuwendungen finanzieller Art an Ärzte transparent gemacht werden sollen. Das ist hier in Österreich freiwillig. Das macht keinen Sinn. Es müsste flächendeckend transparent gemacht werden, wohin die Gelder fließen, damit das Befangensein auch wirklich klargelegt ist. In Amerika haben wir das schon, in Österreich ist es noch nicht der Fall. Interessenkonflikte finanzieller Art sind ein wichtiges Thema, das wir im nächsten Jahr aufgreifen werden. Dann gibt es Konflikte, wie man mit großen Entscheidungen in der Medizin umgeht, die Entscheidung über Leben und Tod, Sterbehilfe … was bedeutet das. Das ist ein riesiger medizinischer und ethischer Konflikt. Kooperation ist auf der anderen Seite intensiv nötig, muss auch verbessert werden, zwischen den einzelnen Berufsgruppen, zwischen Ärzten und Pflege zum Beispiel. Hier ist sehr viel mehr Kooperation sicher sehr sinnvoll. Hier kann man von guten Beispielen, wie etwa Schweden und Kanada, viel lernen, wo die practitioning nurse sehr viel Gesundheitsvorsorge und -fürsorge leistet und Ärzte entlastet, damit sie sich um das rein Medizinische kümmern können.

AERZTE Steiermark: Konflikte spielen ja ganz generell in der Gesundheitspolitik eine große Rolle. Wenn es finanzielle Engpässe gibt, wird Reduktion als Qualitätssteigerung verkauft …
Schmidt-Erfurth: Es wird immer mehr Geld in die Gesundheitsversorgung gesteckt und es wird immer weniger effizient genutzt. Die Zusammenhänge sind ja längst von Gesundheitsökonomen untersucht: Je größer die Ungleichheit in der Gesellschaft ist, umso kranker wird die Gesellschaft. Dem kann man durch isoliertes Investieren in die Gesundheitsversorgung nicht beikommen. Da braucht man eine gut aufgesetzte Gesellschaft, man muss in Bildung investieren, man muss dafür sorgen, dass die Lebensführung gut und gesund ist. Man muss dafür sorgen, dass die unteren sozialen Schichten nicht noch mehr unter die Armuts- und damit die Bildungsgrenze fallen. Das sind Investitionen, die sich in einem besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung äußern. Das Beispiel ist immer Norwegen, wo sehr viel weniger Geld in die Gesundheitsversorgung fließt als in den USA, die Bevölkerung aber wesentlich gesünder ist, während in den USA die Gesundheitsausgaben explodieren und dennoch die Gesundheitsparameter der Bevölkerung immer schlechter werden.

AERZTE Steiermark: Greift die Gesundheitspolitik zu sehr nur im engeren, medizinischen Bereich ein?
Schmidt-Erfurth: Die Politik an sich ignoriert die großen Aufgaben und verheddert sich im Mikro-Management. Es bringt nichts, darüber zu diskutieren, welche weiteren Screening-Programme und diagnostischen Methoden bezahlt werden sollen, wenn man die Ursachen für das Krankwerden im großen Stil nicht behebt. Aber da muss natürlich sehr viel mehr im Großen anders geplant werden, man muss viel größere Entscheidungen treffen. Die Entscheidung für Bildung ist eine größere Entscheidung als die Entscheidung über eine Guideline für den Body Mass Index oder die Blutdruckeinstellung. Man braucht nicht Milliarden für Lipidsenker auszugeben, die Millionen von Menschen einnehmen, wenn man nicht dafür sorgt, dass die Menschen einen ausgeglichenen Lebensstil führen.

AERZTE Steiermark: Warum ist das so?
Schmidt-Erfurth: Die Politik neigt sich immer den einfachen Lösungen zu, aber eine komplexe Welt bietet keine einfachen Lösungen. Man muss die Zusammenhänge erkennen. Deswegen ist auch das Motto Kooperation ein wichtiges. Natürlich muss der Finanzminister mit dem Sozialminister gemeinsame Strategien entwickeln.

AERZTE Steiermark: Müssten die Gesundheitsberufe diese Art der Politik entschlossener einfordern?
Schmidt-Erfurth: Sie fordern sie ja ein, aber ihre Forderungen erreichen natürlich immer nur das Ohr der Gesundheitsministerin oder der Versicherer. Man darf nicht vergessen, dass Versicherungen auch wieder ganz andere Interessen haben. Sie wollen möglichst Gesunde versichern und für die Kranken nicht zuständig sein. Solange es da kein gemeinsames Vorgehen gibt, wird jede Interessengruppe versuchen, ihr Auskommen zu finden. So wird es keinen roten Faden in der Gesundheitspolitik geben.

Univ.-Prof. Dr. Ursula Schmidt-Erfurth ist seit 2004 Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität Wien und seit 2010 Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach. Die gebürtige Deutsche hat ihr Medizinstudium an der Universität München absolviert und 1986 promoviert.

 

Fotos: Andrei Pungovschi, Creative Commons/Bengt Oberger, Meduni Wien/Univ.-Augenklinik

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