Land ohne niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater
Die Volksanwaltschaft zeigt einmal mehr die von der Ärztekammer seit Jahren kritisierte dramatische Unterversorgung auf: In der Steiermark existiert keine einzige § 2-Stelle für Kinder- und Jugendpsychiater.
Die Steiermark und das Burgenland repräsentieren die einzigen weißen Flecken auf der ärztlichen Versorgungslandkarte: Nur hier gibt es keine niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag. Selbst Vorarlberg mit weniger als halb so vielen Kindern wie in der Steiermark bietet die Wahlmöglichkeit zwischen zwei entsprechenden Fachärzten. „In jedem Fach sind niedergelassene Ärzte mit Kassenvertrag Versorgungsstandard“, betont Doris Hönigl, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Graz und Obfrau der zuständigen Fachgruppe. „Dass es in der Steiermark im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich keine § 2-Ärzte gibt, ist ein Skandal!“ Hönigl betreibt – wie neun weitere steirische Kolleginnen und Kollegen – eine Wahlarztpraxis.
Verständnis – ohne Folgen
Generell war Österreich mit der Einführung der Facharztausbildung im Jahr 2006 westeuropäisches Schlusslicht und in der Steiermark herrscht weiterhin Stillstand. Bewegung in die Diskussion, die seitens der Fachgruppe für Kinder- und Jugendpsychiatrie seit fast einem Jahrzehnt geführt wird, brachte nun ein Vorstoß der Volksanwaltschaft. Hönigl ist „froh, dass das Thema jetzt in der Öffentlichkeit präsent ist“. Noch immer ortet sie kein klares Bekenntnis von Seiten der GKK, die Unterversorgung zu beenden. „In der Zeitung war zu lesen, es gebe bereits Gespräche im Hintergrund. Mit mir als Fachgruppenobfrau haben diese nicht stattgefunden“, so Hönigl. Wann immer sie ihre Forderung nach § 2-Stellen für Kinder- und Jugendpsychiater äußere, stoße sie zwar auf Verständnis, dem jedoch keine greifbaren Handlungen folgten.
Aufbau statt Ausbau
Zwar gebe es, so Hönigl, auch Bedarf an weiteren ambulanten, tagklinischen und stationären Plätzen für Kinder und Jugendliche mit psychiatrischem Behandlungsbedarf. Doch hier sei zumindest eine Grundversorgung gegeben. Im niedergelassenen Sektor hingegen geht es nicht um einen Aus-, sondern um einen Aufbau. Konsultationen von entsprechenden WahlärztInnen sind derzeit nur für jene Familien leistbar, in denen ein Elternteil bei der BVA, SVA, VAEB oder KFA versichert ist. „Das ist schlichtweg ungerecht“, urteilt Hönigl.
Mit 1. Jänner 2016 lebten in der Steiermark 212.444 Kinder von 0 bis 18 Jahren. Laut einer deutschen Studie sind im Schnitt 9,6 Prozent der Kinder psychiatrisch behandlungsbedürftig. Umgelegt auf steirische Verhältnisse wären das 20.395 Betroffene. Zu deren Versorgung wären 14 bis 15 FachärztInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig, so die Berechnung der Fachgruppe. Durch Traumafolgen bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen könnte der Bedarf in den nächsten Jahren zusätzlich steigen. „Aber ich bin Realistin“, betont Hönigl. „Fünf optimal verteilte Kassenstellen wären schon ein guter Start.“
Besetzungsprobleme für die Stellen ortet Hönigl keine. Während die bisher in der Steiermark Ausgebildeten mangels Stellenangeboten „auswandern“ mussten, könnten sie in Zukunft bleiben. Einige WahlärztInnen würden auch gerne eine Kassenstelle antreten. Am ärztlichen Personal soll der Ausbau der steirischen Kinder- und Jugendpsychiatrie also nicht scheitern.
Betroffene stolpern ins System
„Generell, aber gerade bei Kindern und Jugendlichen ist die am geringsten eingreifende Maßnahme die beste“, erklärt Fachgruppenobfrau Doris Hönigl. Daher sollte der erste Weg zum/r niedergelassenen Facharzt/-ärztin führen. Bei komplexen Themenstellungen wie etwa einer Autismus-Abklärung stehen im Ambulatorium zusätzliche Möglichkeiten zur Psychodiagnostik zur Verfügung. Greift die Behandlung im familiären Umfeld nicht, bietet sich die Tagklinik an. Erst als letzte Option oder im Fall einer akuten Gefährdung sollte ein stationärer Aufenthalt erfolgen.
Ohne niedergelassene FachärztInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie fehlt die erste Stufe der Treppe – und die Kinder stolpern ins System hinein. „Jede einzelne Versorgungsform ist wichtig – und nimmt ihre speziellen Aufgaben wahr“, betont Hönigl.
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