Kinder sind sein Schicksal
Professor Hugo Sauer, Doyen der steirischen Kinderchirurgie, hat seine Biografie „ Kinderschicksale “ verfasst und würde gerne noch eine „Philosophie der Kinderchirurgie“ schreiben. Sein Vorbild: Chirurg und Schriftsteller René Leriche.
U. Jungmeier-Scholz
Selbst im 90. Lebensjahr sprüht Hugo Sauer noch vor Energie: Versinkt sein Winterdomizil am Niederalpl im Schnee, wirft er eigenhändig die Schneefräse an. Danach empfängt er Freunde oder widmet sich seiner Lektüre. Die Liebe zur Literatur pflegt der emeritierte Professor für Kinderchirurgie, der Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von gestern“ als sein Lebensbuch bezeichnet, auch in aktiver Form: Erst kürzlich erschien sein autobiografisches Werk „Kinderschicksale“ im Leykam-Verlag.
Damit reiht sich Sauer, der auch den Verein „Große schützen Kleine“ zur Unfallverhütung gegründet hat, in die Reihe bibliophiler Chirurgen wie René Leriche und Rudolf Nissen ein. Auf die Frage, ob Leriche ihm als Vorbild gedient habe, antwortet Sauer ohne Zögern: „Das trifft absolut zu.“ Der 1955 verstorbene Leriche hat aber nicht nur Aufzeichnungen über sein Leben hinterlassen, sondern auch eine „Philosophie der Chirurgie“, eine weitere Inspirationsquelle für Sauer: „Hat man einmal angefangen zu schreiben, dann juckt es einen, weiterzuschreiben. Ich würde gerne eine Philosophie der Kinderchirurgie schreiben.“
Bedürfnis nach Bilanz
Aber zurück zu seinem Erstlingswerk: „Ich hatte das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen.“ Über die eigenen Vorfahren weiß Sauer nicht allzu viel; seinen Nachkommen möchte er mehr hinterlassen. Als er nach dem Tod seiner Frau auf jene Briefe gestoßen war, die er ihr in den jungen Jahren der Ehe geschrieben hatte, reifte in ihm die Idee zu einem autobiografischen Werk. Beide Ehepartner haben den kompletten Briefwechsel aufbewahrt, eine gute Basis für sein Vorhaben. Außerdem verfügt Sauer über eine große Schatulle mit Briefen von ehemaligen Patientinnen und Patienten und deren Eltern sowie über umfangreiche Korrespondenzen mit Koryphäen der Kinderchirurgie.
Über acht Jahre zog sich der Entstehungsprozess der „Kinderschicksale“. Die ersten Teile verfasste er handschriftlich und diktierte sie seiner Partnerin Lisa. „Das letzte Zehntel hat er dann selbst in den Computer getippt“, erzählt sie. Vieles davon am Niederalpl, wohin der Asthmatiker Sauer regelmäßig im Winter vor dem Grazer Feinstaub flieht. In die Ruhe einer ehemaligen Holzfällerhütte, die seiner Familie jahrelang als Feriendomizil gedient hat.
Vom Skilift geholt
Heute ruft ihn auch niemand mehr vom Niederalpl zurück – was in seinen aktiven Zeiten als Vorstand der Grazer Kinderchirurgie durchaus vorgekommen ist. „Anfangs hatten wir noch kein Telefon. Wenn ich in der Klinik gebraucht wurde, ist die Gendarmerie Mürzsteg ausgerückt und hat mich sogar vom Skilift geholt.“
Dass Sauer Kinderchirurg wurde, hat sich eher per Zufall ergeben. Aufgrund seines labilen Gesundheitszustands in der Kindheit – bis sein Asthma diagnostiziert wurde – hatte er ständig mit Ärzten zu tun. „Die haben mir wohl imponiert“, meint er heute dazu. Hugo wollte Medizin studieren, auch wenn ihm die Sparte anfangs noch unklar war. „Im zweiten oder dritten Semester bin ich mit meinem Freund Rudi Stauber im Stadtpark gesessen und wir haben über die Zukunft geredet. Er wollte unbedingt Chirurg werden, da habe ich mir gedacht, das kann ich mir auch vorstellen.“ Seine Laufbahn führte ihn von Graz über Linz, die Heimat seiner Frau, mit der er vier Kinder hat, nach Innsbruck, Bremen und schließlich zurück nach Graz.
In Linz bei Professor Rosenauer hatte Sauer gefäßchirurgische Expertise erworben, aber als er nach dessen Pensionierung nach Innsbruck wechselte, war dieser Bereich dort schon abgedeckt. Nach wenigen Monaten Ausbildung in Innsbruck wurde an der Abteilung jemand gesucht, der sein Hauptaugenmerk auf die chirurgische Behandlung von Kindern richten wollte. „Der Oberarzt kam in den OP und hat gesagt: ,Hört´s, Burschen – einer von euch muss Kinderchirurg werden. Entweder meldet sich jemand freiwillig oder ich bestimme einen.´“ Sauer deponierte seinen diesbezüglichen Wunsch beim zuständigen Professor Huber, der ihn als Neuling der Abteilung zunächst abblitzen ließ. Doch Sauer blieb hartnäckig und kam wieder, diesmal mit einer vorbereiteten Publikation. „Damit war das Eis gebrochen und ich durfte zum Lernen nach Linz zu Professor Hartl.“ Sauers Familie war nicht mit nach Innsbruck übersiedelt, sondern in Oberösterreich geblieben – daher kam ihm die neue Ausbildungsstelle doppelt gelegen.
Erste österreichische Kinderchirurgie
Herausragende kinderchirurgische Ergebnisse wurden in den 60er-Jahren allerdings in Bremen von Professor Rehbein erzielt. Und Hugo Sauer wollte vom Besten lernen. Abermals pilgerte er zu Professor Huber und holte sich die Erlaubnis dazu. Mit Jahresbeginn 1966 startete er seine Bremer Lehrjahre, bevor er nach Innsbruck zurückging. Als er schließlich 1975 in seine Heimatstadt Graz berufen wurde, stand am Klinikum gerade die Umwandlung der chirurgisch-orthopädischen Kinderabteilung in die erste kinderchirurgische Klinik Österreichs bevor. „Es haben mittelalterliche Zustände geherrscht“, erinnert sich Sauer. „Gleich zu Beginn sind Vertreter des Roten Kreuzes bei mir aufgetaucht mit der Bitte, ich möge dafür sorgen, dass Notfälle auch gleich versorgt werden. Und nicht erst, wenn die Ärzte ihr Tischtennis-Match beendet haben.“ Diesen Missständen bereitete Sauer ein Ende.
An der neuen Klinik brachte er nicht nur seine chirurgische Expertise ein, sondern auch sein menschliches Einfühlungsvermögen. Die Bedürfnisse der Kinder – und Eltern – gingen ihm zu Herzen. Er weitete die Besuchszeiten drastisch aus und setzte nach einigen Jahren sogar die Mitaufnahme der Mütter „auf dem Klappbett“ durch. Als ihm bewusst wurde, dass meist nur Ein-Kind-Familien von diesem Angebot profitieren konnten, initiierte er die „Gelben Tanten“: ehrenamtlich tätige Frauen, die einsame Kinder besucht haben. Sie trugen einen gelben Mantel, „weil Psychologen festgestellt haben, dass die Farbe Gelb positiv besetzt ist“. Noch heute wünscht sich Sauer, dass Ärzte, die Kinder behandeln, farbiges Gewand tragen dürfen.
Häuser für Wähler
Nicht nur die Mäntel der Ärzte beschäftigten ihn, er setzte sich auch dafür ein, dass die kinderchirurgische Klinik ein neues Gewand erhielt. 18 Jahre nach seinem Dienstantritt war der Neubau schließlich bezugsfertig. „Zunächst wurde das angedachte Bauprogramm immer wieder schubladisiert. Als mich dann einmal ein Reporter der Kleinen Zeitung gefragt hat, warum es noch kein modernes Haus für die Kinderchirurgie gebe, habe ich den damaligen Landesrat Klauser zitiert, der gesagt hatte, Krankenhäuser würden für Wähler gebaut und Kinder seien eben keine Wähler.“ Was tags darauf exakt so auf dem Titelblatt der Kleinen Zeitung stand und die damalige 3. Landtagspräsidentin Waltraud Klasnic zu einem Anruf bei Professor Sauer bewog. Damit kam der Stein – in Form einer Bausteinaktion für den Neubau – ins Rollen.
Als Kinderchirurg war Sauer mit derartigen kindlichen Missbildungen konfrontiert, dass er sich, wie er rückblickend sagt, nach diesen Erfahrungen nicht mehr getraut hätte, Kinder zu zeugen. Aber auch scheinbar hoffnungslose Fälle gab er nicht so leicht auf. Eine Patientin, die er in ihrer Kindheit über 15 Jahre als Chirurg begleitet hatte, schickte ihm nach der Lektüre seiner Autobiografie eine Karte. Sie hatte ihre Lebensgeschichte im Buch wiedererkannt – und berichtete von dem erfüllten Leben, das sie nun führt. Eines der schönsten Erlebnisse für Hugo Sauer.
Die wichtigste Botschaft, die er angehenden Kinderchirurginnen und -chirurgen mitgeben möchte, ist ein Appell an ihr Verantwortungsbewusstsein. „Im Bereich der Kinderchirurgie überleben die Patienten ihre Chirurgen oft um viele Jahrzehnte und müssen solange mit dem Ergebnis der Operationen leben.“ Auch Sauer selbst blickt auf viele erfüllte Jahrzehnte zurück – und bereitet sich voller Vorfreude auf seinen 90. Geburtstag im Oktober vor.
Foto: beigestellt