Hoffnung um jeden Preis?
Hochpreisige Medikamente machen in Österreich im niedergelassenen Bereich nur ein halbes Prozent der Verordnungen aus, verursachen aber nahezu ein Drittel der Kosten. Auch Spitalsträger kämpfen mit den steigenden Arzneimittelausgaben.
U. JUNGMEIER-SCHOLZ
Stell dir vor, es gibt ein wirksames Medikament – und keiner kann es bezahlen. Zukunftsvision ist dieses Szenario keine mehr. Im niedergelassenen Bereich stehen die Versicherungsträger vor schwierigen Einzelfallentscheidungen und im intramuralen Bereich diskutieren Gremien, unter welchen Bedingungen ein Medikament überhaupt verwendet wird. Dabei ist die Bereitschaft zur Kostenübernahme eng an die Prognose der Wirksamkeit geknüpft, die sich bei neuen Produkten oft nur vage vorhersagen lässt.
Neu zugelassene Wirkstoffe seien in Österreich „fast immer Hochpreiser“, erläutert Robert Sauermann, Leiter der Abteilung „ Vertragspartner Medikamente “ im Hauptverband. Dort versteht man darunter Heilmittel ab einem Packungspreis von 700 Euro. „Betroffen sind vor allem Onkologika, aber auch Orphan Drugs und Medikamente im Rheuma-Bereich“, so Sauermann. Und diese wachsen sich zusehends zum Problem aus: Obwohl die Gesamtzahl aller erstatteten Verordnungen laut Maschineller Heilmittelabrechnung zwischen 2009 und 2017 um gut drei Prozent zurückgegangen ist, sind im selben Zeitraum die Gesamtausgaben für Heilmittel im extramuralen Bereich um mehr als ein Viertel gestiegen. Haupt-Verursacher sind hochpreisige Medikamente, die 2017 nur rund ein halbes Prozent aller Verordnungen ausgemacht haben, aber 32 Prozent der Ausgaben für erstattete Medikamente. Tendenz steigend.
Hauptargument Entwicklungskosten
Begründet werden die exorbitanten Preise mit den hohen Entwicklungskosten, doch diese Argumentation wird zunehmend kritisiert. Denn laut OECD-Bericht Health at a glance aus dem Jahr 2015 sollen nur 10 bis 15 Prozent der Einnahmen der Pharmabranche auch wirklich in die Forschung zurückfließen.
Claudia Wild, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts Health Technology Assessment , schlägt daher als Maßnahme gegen die Kostenexplosion bei neu zugelassenen Medikamenten eine verpflichtende Preisbildungsoffenlegung vor. Wild vertritt Österreich in einem von der Europäischen Kommission beauftragten Experten-Think-Tank für effektive Investitionen in der Gesundheitsversorgung. Kürzlich hat dieser einen Bericht über Steuerungsmodelle für hochpreisige Medikamente publiziert, der auf acht Prinzipien basiert. Die Offenlegung der Entwicklungskosten steht dabei an erster Stelle.
Rund 40 Prozent des Gesamtprocederes der Arzneimittelentwicklung, so Wild, würden ohnehin öffentlich finanziert, durch Grundlagenforschung. Diese Anteile müsse die Gesellschaft kein zweites Mal bezahlen. Wild schlägt auch das Engagement von öffentlichen – statt der bisherigen, von der Pharmaindustrie entsandten – Patentscouts vor, die an den Universitäten nach verwertbaren Erkenntnissen Ausschau halten. Spätere Phasen der Medikamentenentwicklung sollten ausgeschrieben werden. Das Patent für das neue Medikament müsse sich aber wieder in öffentlicher Hand befinden, die dann auch den Preis gestalten könne.
Flexibler Patentschutz
Als zweite Maßnahme schlägt das Expert Panel Anreize für echte Innovation vor – beispielsweise durch veränderten Patentschutz. „Echte“ Innovation, so Wild, sei derzeit äußerst selten – worin ihr Thomas Griesbacher, Facharzt für Pharmakologie an der Meduni Graz und Mitglied der Heilmittelevaluierungskommission des Hauptverbands, zustimmt.
Innovation soll durchaus finanziell belohnt werden – aber nicht unbegrenzt. Wird derzeit ein Medikament zum Verkaufsschlager, wie beispielsweise die Hepatitis C-Präparate mit Sofosbuvir als Wirkstoff, sichert der Patentschutz der Erzeugerfirma enorme Gewinne. Um den Preis, dass nicht alle Betroffenen damit versorgt werden können. Wild schätzt, dass beim ersten Sofosbuvir-Präparat bereits mit den Verkaufserlösen eines halben Jahres die Entwicklungskosten um ein Mehrfaches hereingespielt werden konnten. „Man sollte den Patentschutz daran koppeln, ob sich ein Medikament zum Blockbuster entwickelt“, fordert die HTA-Expertin. Nicht der Zeitablauf soll das Maß des Patentschutzes bestimmen, sondern eine Regelung, dass beispielsweise ab einem Gewinn in der dreifachen Höhe der Entwicklungskosten die Einführung von Generika erlaubt sein müsse.
Quantität versus Qualität
Schwierig bleibt es, den Patientennutzen zu quantifizieren. Gerade bei den Onkologika, mit Durchschnittspreisen von mehr als 9.000 Euro pro Behandlungsmonat, darf nicht nur die dazugewonnene Zeit zählen, sondern auch die Lebensqualität.
Krebsmedikamente würden oft ohne hinreichend belegte Vorteile zugelassen, konstatiert eine im vergangenen Herbst im British Medical Journal publizierte Studie von Courtney Davis et al., die alle zwischen 2009 und 2013 zugelassenen Onkologika analysiert. Betrachtet wurden 68 Medikamente (bzw. Indikationen), von denen mehr als die Hälfte ohne messbare Lebensverlängerung oder Verbesserung der Lebensumstände von Patienten zugelassen worden waren. Nur gut die Hälfte schnitt nach fünf Jahren besser ab als ältere Therapien oder ein Placebo. Kein unwesentlicher Aspekt, verursachen doch gerade die Onkologika in Spitälern rund 40 Prozent der Arzneimittelkosten – für rund fünf Prozent der Patienten. Trotzdem wächst der Druck auf die EMA, Zulassungsverfahren zu beschleunigen. Hier trifft Evidenz auf Emotion: Niemand möchte in Kauf nehmen, dass Menschen länger leiden oder sterben müssen, weil ein Medikament noch nicht zugelassen wurde. Allerdings kann auch deren Leiden durch die Nebenwirkungen unzureichend erprobter Arzneimittel vergrößert werden.
Staaten wollen entscheiden
Für raschere und qualitativ hochwertige Kosten-Nutzen-Bewertungen gibt es seit 2012 das Europäische Netzwerk für Health Technology Assessment EUnetHTA. Ziel des Netzwerkes ist ein höherer Output an Entscheidungen in derselben Zeit – bei standardisierter Qualität. Allerdings, so Wild, gäben die Länder nicht gerne die Entscheidungsmacht ab – durchaus aus finanziellen Gründen. So falle manchmal die Kosten-Nutzen-Rechnung zwar für den einzelnen Patienten positiv aus, ein Land könne sich aber aufgrund großer Betroffenenzahlen die Einführung des Medikamentes trotzdem nicht leisten.
Reine Nutzenbewertung als Basis der Preisgestaltung versagt spätestens bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen. „Hier greift die Kosten-Nutzen-Relation gar nicht, denn Orphan Drugs sind immer exorbitant teuer“, erklärt Wild. Für diese müsste eine andere Vorgangsweise angedacht werden; Stellschraube könnte auch hier der Patentschutz sein.
Masse ist Klasse
Derzeit versuchen alle Verhandlungspartner mit Pharmafirmen Deals zu schließen. Auf der Makroebene haben sich in Europa nach ihrer Finanzkraft „vier medizinische Kulturräume“ gebildet, wie Claudia Wild die Einkaufsgemeinschaften von Länder-Zusammenschlüssen nennt. So kooperieren die skandinavischen Staaten, ebenso die Visegrád-Staaten sowie die südeuropäischen. Österreich nimmt an BeNeLuxA teil, allerdings ist das Projekt noch im Aufbau begriffen. „Der Informationsaustausch ist besser geworden, aber es ist noch zu früh, um mehr zu sagen“, betont Sauermann vom Hauptverband.
Allerdings reicht die formelle Erhältlichkeit von Medikamenten nicht aus – vor allem in den osteuropäischen Ländern sind zugelassene Onkologika oft schlichtweg nicht verfügbar (und für den Einzelnen ohnehin nicht leistbar), so eine Studie der Onkologengesellschaft ESMO. Nicht bewährt hat sich der Versuch einiger Länder, einen Schwellenwert für hochpreisige Medikamente einzuführen: Schlagartig wurden neue Arzneimittel mit einem Preis von einem Cent unter dem Richtwert auf den Markt gebracht. Österreich orientiert sich seit einer Gesetzesnovelle im Vorjahr bei nicht im Erstattungskodex angeführten Medikamenten am EU-Durchschnittspreis. Sobald in den vergangenen 12 Monaten mit der Sozialversicherung ein Umsatz über 750.000 Euro auf Basis des Fabriksabgabepreises erzielt wird, muss der EU-Durchschnittspreis ermittelt werden und gilt für die Sozialversicherungsträger als österreichischer Höchstpreis. „Diese Höchstgrenze wird 2018 schlagend“, erklärt der Experte im Hauptverband.
Innovative Finanzierung
Auf der Mikroebene suchen Krankenanstalten gemeinsam mit Pharmaunternehmen nach Lösungen. Verhandelt wird dabei um Rabatte, aber auch um „pay for performance“. Bezahlt wird nur, wenn das Medikament wirkt. Andere „managed entry agreements“ umfassen auch die Übernahme von bei der Behandlung anfallenden Nebenkosten durch die Pharmafirma. „Kann der in der Verfahrensordnung festgelegte Preis durch ein Rabattmodell erreicht werden, steht den Patienten immerhin eine weitere Therapieoption zur Verfügung“, erklärt Griesbacher.
Kostensenkend wäre es auch, wenn Prognosen zur Wirksamkeit eines Hochpreis-Medikamentes verfeinert werden könnten. Im Einzelfall gebe es sehr zufriedenstellende Ergebnisse mit neuen Medikamenten, erklärt der Leiter der Grazer Onkologie, Herbert Stöger. „Leider haben wir für manche Tumorentitäten noch wenige prädiktive Marker, bei wem eine Therapie wirkt. Das wird die Forschungsarbeit der nächsten Jahre sein.“ Die neuen Immuntherapien zeigten, so Stöger, ganz unterschiedliche Erfolge: Durchbrüche seien beim malignen Melanom zu verzeichnen und rund jeder fünfte Lungenkrebs-Patient profitiere deutlich davon. Bei Blasen- und Nierenkrebs sei es jedoch anders.
„Muss Politik beantworten“
Selbstverständlich werde über den Einsatz von besonders teuren Medikamenten nach äußerst sorgfältigen Überlegungen entschieden, betont Stöger. „Aber die Frage, welche Medikamente finanziert werden, muss die Politik beantworten. Das ist eine sozialpolitische und ethische Grundfrage, die nicht am Arzt hängenbleiben soll.“
Abwägungen zwischen Investitionen in hochpreisige Medikamente oder in Palliativmedizin möchte Stöger keinesfalls anstellen. „Beides gehört vernünftig eingesetzt. Ich kann mich im Winter auch nicht entscheiden, ob ich eine Haube oder warme Schuhe anziehe. Ich brauche beides.“
AERZTE Steiermark Juni 2018
Fotos: beigestellt, Schuster, MUG, Opernfoto