AERZTE Steiermark 01/2021
Verschiebung der Grenze
Martin Novak
Bei der echten Sterbehilfe ist Österreich Europas Musterknabe. In keinem anderen Land gibt es – bezogen auf die Bevölkerungszahl – so viele Palliativeinrichtungen, die Menschen das Sterben erleichtern. Nun hat aber der österreichische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass der § 78 des Strafgesetzbuches, der die Hilfeleistung bei einem Selbstmord unter Strafe stellt, aufzuheben ist.
Der Gesetzgeber hat nun ein Jahr Zeit, um diesen Passus des StGB zu ändern.
Von „Sterbehilfe“ zu sprechen, ist eine Beschönigung. Denn es geht um „Tötung“ oder Hilfe zur Tötung. Nun hat der österreichische Verfassungsgerichtshof die Aufhebung bzw. Änderung des Paragrafen 78 „Mitwirkung am Selbstmord“ im Strafgesetzbuch verlangt. Darin heißt es: „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Gleichzeitig hat der VfGH dem Gesetzgeber ein Jahr Zeit gegeben, den Paragrafen zu „reparieren“. Es ist also nicht so, dass jemand, der heute jemandem den Strick oder die Giftspritze für den Selbstmord besorgt, dies straffrei tun kann.
Damit folgte der Gerichtshof laut Medienberichten einem Ende Mai 2019 eingebrachten Antrag zweier schwer Erkrankter, eines Mannes, der wegen Beihilfe zum Suizid verurteilt worden sei, und eines Arztes, der legal Sterbe- bzw. Selbsttötungshilfe leisten wolle.
Die Aufhebung der Strafbarkeit der „Tötungshilfe“ ist kein österreichisches Spezifikum. Eine breite Diskussion um eine ähnliche Entscheidung gab es in Deutschland. Vor allem in den westeuropäischen Ländern – den Niederlanden oder Belgien –, aber auch in einigen US-Staaten ist die Beteiligung an der Euthanasie gesetzlich geregelt.
Eine bedeutende Rolle kommt dem Schweizer Verein „Dignitas“ zu, der die Hilfe zur Selbsttötung und die Beseitigung rechtlicher Barrieren dafür als tatsächlichen Vereinszweck hat. „Dignitas ist eine kämpferische Organisation und setzt sich vor allem juristisch für das «letzte Menschenrecht» ein. Wer Mitglied ist, hat Zugang zu den Leistungen von Dignitas und solidarisiert sich mit anderen Personen, denen Wahlfreiheit am Lebensende wichtig ist“, heißt es auf der Website des deutschen Dignitas-Ablegers.
Die Mitgliedschaft ist natürlich nicht kostenlos, wie die Deutschland-Sektion des Vereins auch freimütig einräumt: „Ein solcher Kampf ist nicht gratis zu haben.“ Die Mitgliedschaft in Deutschland kostet 120 Euro pro Jahr (+ ebenfalls 120 Euro einmalige Aufnahmegebühr). Wer vor Vollendung des 40. Lebensjahres eintritt, bekommt es billiger. Als kleines Rechenbeispiel: Wer mit 50 Jahren beitritt und dann mit 75 Jahren die „Leistungen“ in Anspruch nimmt, hat mehr als 3.000 Euro an Mitgliedsbeiträgen dafür bezahlt. Ohne Beitrittserklärung gibt es keine Freitodbegleitung (abgekürzt FTB), betont der Schweizer Verein.
Österreich: Bei Palliativeinrichtungen Europa-Spitze
Zu diesen Leistungen zählt nach eigenen Angaben auch die Sterbebegleitung. Wofür es in Österreich aber wenig Bedarf geben sollte. Zumindest weit weniger als in allen anderen europäischen Ländern. Denn laut European Association for Palliative Care hat Österreich bezogen auf die Bevölkerung die meisten palliativen Betreuungseinrichtungen Europas. Deutschland liegt nur auf Platz 15, die Schweiz auf dem 18. Platz und die Niederlande noch dahinter (Rang 24). Nur Belgien liegt ebenfalls im „Spitzenfeld“ der Palliativversorgung – auf dem 5. Platz. Da hat der steirische Ärztekammerpräsident Herwig Lindner wohl recht, wenn er sagt, „die Debatte kommt aus Ländern, in denen es um die Palliativmedizin und Hospizbetreuung weit schlechter bestellt ist als in Österreich“.
Der Druck steigt
Während Befürworter der Tötungshilfe argumentieren, dass damit eine gewaltsame, einsame Selbsttötung vermieden werden könne, befürchten Kritiker, dass das Angebot der professionellen Tötung ein Beleg dafür sei, dass die Betroffenen „von der Gesellschaft aufgegeben wurden“ (siehe
Interview mit dem niederländischen Theologen Theo Boer).
Die Sorge ist groß, dass die Möglichkeit der Tötungshilfe den Druck erhöht, diese auch in Anspruch zu nehmen. So sieht es etwa der US-amerikanische „National Council on Disability“. Dessen Vorsitzender, Neil Romano, der unter dem republikanischen US-Präsidenten George Bush „Assistant Secretary of Labor for Disability Employment Policy“ war, schrieb 2019 in einem Brief an Präsident Trump sinngemäß, dass Menschen mit Behinderung nicht gedrängt werden dürften, ihr Leben wegen fehlender Unterstützung und medizinischer Angebote zu beenden.
„Die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts durch das VfGH-Erkenntnis kann in seine Schwächung umschlagen, sollte es dem Gesetzgeber nicht gelingen, Maßnahmen gegen den Missbrauch der Suizidbeihilfe zu setzen, die nicht gleich wieder als verfassungswidrig aufgehoben werden“, schreibt auch Ulrich Körtner, Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, in einem Wiener Zeitung-Kommentar.
Schwer – unheilbar – kranken Menschen können Ärztinnen und Ärzte schon jetzt „sterbehelfen“: So ist es laut einer oberstgerichtlichen Entscheidung erlaubt, starke Schmerzmittel zu geben und damit in Kauf zu nehmen, dass so das Leben verkürzt wird. Ebenso ist es erlaubt, Leben (und Leiden) verlängernde Maßnahmen zu unterlassen.
76.000 gesunde Ältere mit hartnäckigem Todeswunsch
Eine Anfang 2020 veröffentlichte Untersuchung der Universität für Humanistik in Utrecht kommt auf rund 76.000 55+Jährige in den Niederlanden, die einen hartnäckigen Todeswunsch haben, ohne ernsthaft krank zu sein. Etwa 43.000 davon haben laut Studie bereits Pläne dafür gemacht oder entsprechende Schritte eingeleitet. Und um die 10.000 wünschen sich dafür Beratung bzw. Unterstützung für die Selbsttötung. Eine gute Nachricht für alle, die im Todeshilfe-Business tätig sind. Lindner dazu: „Jetzt müssen zwei Dinge verhindert werden: dass Ärztinnen und Ärzte unter Druck kommen, Sterbehilfe leisten zu sollen und dass Sterbehilfe auch in Österreich zum Geschäftsmodell wird.“
Der österreichische Gesetzgeber hat es in der Hand, eine Lösung herbeizuführen, die Selbstbestimmung möglich macht, ohne den Tod zum Geschäft zu erheben.
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