AERZTE Steiermark 02/2021
Das Mysterium der Zahlen
In Corona-Zeiten wird viel mit Zahlen argumentiert. Manche davon sind allerdings verzerrt, aus dem Zusammenhang gerissen oder sie werden falsch interpretiert. Das macht sie als Entscheidungsgrundlage prekär.
Am 25. Jänner 2021, Stand 7:00 Uhr, gab es in der steirischen Gemeinde Pöls-Oberkurzheim 51 aktiv COVID-19-Infizierte. In der Landeshauptstadt Graz waren es zum gleichen Zeitpunkt 368, also gut siebenmal so viele. Allerdings hat die Marktgemeinde Pöls-Oberkurzheim laut offizieller Zählung (Stand 1. Jänner 2020) eine Wohnbevölkerung von 2.961 Menschen, in Graz sind es dagegen 291.072, fast hundertmal so viele. Womit Graz auf 1,3 aktiv Infizierte pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner kommt, im Vergleich zu den anderen steirischen Gemeinden ein unauffälliger Wert, während Pöls-Oberkurzheim mit 17,2 aktiv Infizierten auf 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner zu dem Zeitpunkt traurige Steiermark-Spitze war.
Aufrufen lassen sich die nüchternen, aber immer aktuellen Zahlen über die Website der steirischen Landesstatistik. Hier wird rapportiert, nicht interpretiert.
Eine immer wieder verbreitete Befürchtung ist, dass die COVID-19-Pandemie zu einer messbaren „Übersterblichkeit“ im Jahr 2020 geführt hat. Ende Jänner veröffentlichte die Austria Presse Agentur (APA) eine in diversen Medien verwendete Grafik, die diese „Übersterblichkeit“ bestätigte. Mit Berufung auf die Quellen Statistik Austria und Land Wien Statistik wurde hier grafisch dargestellt, dass die Sterblichkeit in Österreich 2020 um 10,1 Prozent über dem „statistisch erwarteten Wert“ lag. Besonders hoch war laut Grafik die Steigerung in der Steiermark – 15,2 Prozent, gefolgt von Kärnten mit 12,9 Prozent. Besonders niedrig dagegen war sie im Burgenland mit 4,2 Prozent.
Die offizielle Medieninformation der Statistik Austria ging am 14. Jänner 2021 nicht von 10,1 sondern von 10,9 Prozent aus. Demnach seien im Jahr 2020 (ohne im Ausland Verstorbene) 90.123 Todesfälle zu verzeichnen gewesen. Hier fällt die Steiermark (was die altersstandardisierte Sterberate betrifft) nicht aus dem Rahmen, sondern liegt laut Atlas der Sterbefälle im Mittelfeld – gemeinsam mit Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich und Wien. Darunter bewegen sich Vorarlberg, Tirol und das Burgenland, darüber Kärnten. Wobei die Zuwächse der Todesfälle vor allem den November und Dezember betreffen.
Verglichen wurde das Jahr 2020 mit dem Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019. Wobei in der Medieninformation die massiven Zuwächse des Jahres 2020 gleich einmal relativiert wurden: „In den letzten drei Wochen des Jahres 2020 lagen die Werte zwar weiterhin auf verhältnismäßig hohem Niveau, waren aber bereits leicht niedriger als zu den Spitzen der starken Grippewelle im Jänner 2017.“
„Die Lebenserwartung ist im Corona-Jahr 2020 gegenüber 2019 um rund ein halbes Jahr gesunken und liegt bei Männern nun bei 78,9 Jahren und bei Frauen bei 83,7 Jahren. Mit einer starken Verbreitung der Impfungen und nach Bewältigung der Pandemie ist anzunehmen, dass die Lebenserwartung mittelfristig wieder auf den Wachstumstrend einschwenken wird. Ähnliches zeigen die Erfahrungen aus stärkeren Grippejahren. Offen sind allerdings noch die möglichen Langfristfolgen „überstandener Coronaerkrankungen“, erläuterte Statistik Austria-Generaldirektor Tobias Thomas die Zahlen.
Eine immer wieder ins Treffen geführte Sorge ist die, dass Corona-bedingt (nicht wegen des Virus, sondern wegen der Belastung) die Zahl der Suizide zunehmen könnte. Wobei es dazu bis Ende Jänner 2021 keine Zahlen gab. Wenn es sie aber gibt, sollte man (bezogen auf die Steiermark) eines nicht vergessen: 2019 wurde „ein Tiefststand seit Erhebung dieser Daten verzeichnet“, (so Heft 11/2020 der „Steirischen Statistiken“) – mit 15,2 Suiziden je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der Bericht betont aber auch, dass die Steiermark im Österreich-Vergleich nicht gut liegt: „Obwohl die Zahl der Suizide im Jahr 2019 in der Steiermark so gering wie noch nie war, liegt die (altersstandardisierte) Rate nach wie vor deutlich über dem Bundesschnitt von 12,2, und im Bundesländervergleich ist unser Bundesland damit wieder an zweiter Stelle nach Kärnten (17,9), das bereits 2014 bis 2016 sowie 2018 den ersten Platz innehatte. 2012 war Salzburg der Spitzenreiter. 2013 und 2017 sowie vor 2012 befand sich meist die Steiermark auf Platz 1.“
Um wieder auf Corona zurückzukommen: Die meisten aktiv Corona-Infizierten auf Bezirksebene hatte (nicht nur) am 31. Jänner 2021 Graz, die wenigsten Murau. Klar, auch wenn die Zahl der (aktiv) Infizierten nicht durchgehend mit den Bevölkerungszahlen korreliert, gibt es doch verständliche Zusammenhänge. Graz (Stadt) ist mit mehr als 291.000 Einwohnerinnen und Einwohnern Spitzenreiter, Murau mit etwa 27.500 abgeschlagen Schlusslicht.
Da ist die Zahl der aktiv Infizierten je 100.000 Einwohner schon aussagekräftiger. Hier lag Graz mit 131 Fällen am 31. Jänner 2020 am zwölften Platz der steirischen Bezirke, dahinter nur mehr Leoben mit 89. Klar davor – wenn auch unter dem Steiermark-Durchschnitt von 176 – der Bezirk Murau mit 149. Die mit Abstand meisten aktiv Infizierten je 100.000 Einwohner hatte an diesem Tag der Bezirk Oststeiermark – 399, und damit mehr als doppelt so viele wie der Steiermark-Durchschnitt.
Fazit: Es lohnt sich, Zahlen nüchtern zu betrachten und ins Verhältnis zu setzten. Und spekulative Überinterpretationen zu vermeiden. Oder wie es Franz Graf Attems Ende des 19. Jahrhundert erkannte: „Es scheint bei der Verfassung statistischer Nachweise vielfach etwas vorzuherrschen, nämlich das Reich der Erfindung.“ Was dann übrigens zur Gründung der Landesstatistik Steiermark führte, die seither zuverlässige Quelle für statistische Informationen als Basis für Entscheidungen ist.
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„Diverse Plausibilitätsprüfungen“
Die Landesstatistik Steiermark bereitet die Corona-Daten für die Steiermark auf.
Wir sprachen mit deren Leiter, Martin Mayer. Auch darüber, dass längst überholte Zahlen
in Köpfen und Medien lange überleben.
Martin Novak
AERZTE Steiermark: Die Landesstatistik Steiermark veröffentlicht regelmäßig Corona-Daten, konkret auch die Zahl der aktiv Infizierten nach Gemeinden und Bezirken. Woher beziehen Sie Ihre Daten?
Martin Mayer: Aus dem EMS (Epidemiologisches Meldesystem; EMS ist das offizielle Register, in welches hauptsächlich von den Bezirksbehörden sowie von Labors eingetragen wird), durch eigene Auswertungen sowie solche der AGES.
Lohnt sich der Aufwand? Haben Sie Zahlen über die Zugriffe auf diese Daten?
Mayer: Aktuelle Zugriffszahlen haben wir nicht, nur einen Hinweis über die zahlreichen großteils positiven Bewertungen auf der Homepage, diverse Anfragen zu den Daten, die umfangreiche Berichterstattung in den Medien sowie die Reaktionen, wenn wir die Daten z. B. verspätet veröffentlichen.
Wichtige Grunddaten kommen vom Gesundheitsministerium. Sie sind also von anderen abhängig. Wie überzeugen Sie sich von der Plausibilität dieser Zahlen?
Mayer: Die Daten werden von den BHs, Labors etc. ins EMS eingemeldet, d. h. die Daten sind eigentlich nicht vom Gesundheitsministerium, sondern werden quasi nur dort in der EMS-Datenbank gesammelt. Da es sich um Einzeldaten handelt, werden diverse Plausibilitätsprüfungen auch von uns durchgeführt und bei Unplausibilitäten wieder an die BHs, Labors etc. rückgemeldet.
Auffällig ist, dass Regionen der Steiermark, die wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, bei aktiv Infizierten bezogen auf die Bevölkerungszahlen eher weiter vorne liegen. Das sind Bezirke wie die Südoststeiermark, das Murtal oder Liezen … Andere, über die viel berichtet wird, wie die urbanen Räume, konkret Graz, aber auch Weiz oder Hartberg-Fürstenfeld, liegen weiter hinten. Werden die falschen Kühe geschlachtet?
Mayer: Die Zahl der aktiv Infizierten schwankt natürlich immer wieder, hier ist einmal der eine Bezirk im Ranking vorne und das nächste Mal ein anderer. Speziell am Anfang hat es in Hartberg-Fürstenfeld recht viele Fälle gegeben – auch in Graz, vielleicht ist das deshalb noch in Erinnerung.
Stimmt die These also nicht, dass in Räumen mit hoher Bevölkerungsdichte zwangsläufig höhere Infektionszahlen bezogen auf die Einwohnerzahlen zu erwarten sind?
Mayer: Das ist schwierig zu beantworten, da die Infektionszahlen nicht nur vom Wohnort bzw. den Wohnverhältnissen abhängen, sondern in erster Linie von den Kontakten untereinander – und diese sind sowohl in der Stadt als auch am Land in den unterschiedlichsten Formen vorhanden.
Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit einem Journalisten aus einer der betroffenen Regionen. Da ist der Verdacht aufgetaucht, dass „alte“ Fakten schwer auszumerzen sind, auch wenn sie längst überholt sind. Können Sie diesem Befund etwas abgewinnen?
Mayer: Durchaus. Wie zuvor erwähnt war z. B. Hartberg-Fürstenfeld speziell im März 2020 mit dem LKH-Hartberg und einem großen Pflegeheim in den Medien sehr stark vertreten. Und vielleicht ist es tatsächlich so, dass das dann eine gewisse Zeit in der Wahrnehmung „hängenbleibt“.
Eine Frage an den technischen Mathematiker: Bei der Verleihung des Gerhart-Bruckmann-Preises 2019 wurde Franz Graf Attems zitiert: „Es scheint bei der Verfassung statistischer Nachweise vielfach etwas vorzuherrschen, nämlich das Reich der Erfindung.“ Gilt dieser Satz auch heute noch?
Mayer: Dieses Zitat Ende des 19. Jahrhunderts hat in der Folge zur Gründung der 1. Landesstatistik Österreichs in der Steiermark geführt, um Statistiken auf eine solide Basis zu stellen. So ist das auch geblieben, dass die amtliche Statistik ein Garant für objektive, hochwertige und zuverlässige statistische Informationen als Basis für Entscheidungen ist.
Dipl.-Ing. Martin Mayer wurde 1966 in Leoben geboren. Nach der HIB Liebenau studierte der Steirer Technische Mathematik und spezialisierte sich auf Statistik.
Seit 1993 arbeitet er für die Statistik Steiermark. Seit 2006 ist er Landesstatistiker und seit 2012 Leiter des Referats für Statistik und Geoinformation.
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