AERZTE Steiermark 03/2021
Ein Aufenthalt in Indien erdet mich
Hygienikerin Andrea Grisold leitet ehrenamtlich den Bereich Global Health & Development der Med Uni Graz. In der Lepra-Ambulanz des indischen Doctor Typhagne Memorial Charitable Trust hat sich ihre Sicht auf die Welt verändert.
Ursula Scholz
Andrea Grisold sprüht vor Energie. Die Grazer Professorin für Hygiene und Mikrobiologie, Bereichsleiterin für Krankenhaushygiene und Impfungen am MUG-Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin sowie Vorsitzende des nationalen Verifizierungskomitees zur Elimination von Masern und Röteln in Österreich (um nur einige Funktionen zu nennen), ist nicht leicht zu bremsen. Daneben leitet sie ehrenamtlich das Projekt Global Health & Development (GHD) an der Medizinischen Universität Graz, das Ärzt*innen wie Studierenden ermöglicht, sich im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren. Gegründet wurde die GHD im Jahr 1986 vom Grazer Professor für Geomedizin, Wolf Sixl, der ebenfalls am Hygieneinstitut tätig war. Im Zuge seiner Pensionierung übernahm Grisold das Projekt, nachdem Sixl sie durch zahlreiche Erzählungen mit seiner Begeisterung „infiziert“ hatte.
„Die Studierenden sollen nicht nur stur lernen, sondern auch einmal über den Tellerrand blicken“, erklärt sie ein wichtiges Ziel des Projektes, neben der Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern in verschiedensten Ländern. Dazu organisiert GHD Lehrveranstaltungen an der Grazer Med Uni – und ermöglicht Studierenden Reisen zu den unterstützten Projekten in Indien und Nepal. Diplomarbeiten, wie zum Beispiel über den Alltag indischer Leprakranker, sind daraus bereits entstanden.
Ein halber Jutesack
Auch für Grisold selbst haben sich durch die vor Corona alljährlichen Indienreisen nach Salem, wo der Trust seinen Sitz hat, neue Perspektiven eröffnet: „Gleich bei meiner ersten Indienreise ist mir bewusst geworden, mit wie wenig materiellen Gütern ein Mensch leben kann – oder oft leben muss. In den Dörfern, die wir besucht haben, füllt das Hab und Gut eines Einzelnen oft einen Jutesack nur zur Hälfte. Solche Aufenthalte erden extrem. Und nach all den Eindrücken komme ich immer wieder mit einer inneren Ruhe zurück und fühle mich reicher als beim Hinfahren.“
Wichtig ist ihr zu betonen, dass GHD sich als Player der Entwicklungszusammenarbeit – nicht Entwicklungshilfe – versteht und dass es bei allen Aktivitäten um Hilfe zur Selbsthilfe geht. „Wir schauen vor Ort, wobei wir die Partner-Gesundheitseinrichtung unterstützen können, predigen aber nicht von oben herab.“ Unterstützungsangebote gibt es in verschiedenen Bereichen: von der Krankenhaushygiene über die Druckkostenübernahme für Aufklärungs-Flyer bis hin zur Verbesserung der Wasserversorgung. Oft vernetzt GHD die örtlichen Gesundheitsspezialisten mit österreichischen Experten. Dabei wird keine Eule nach Athen getragen: „Wir wollen nichts hinbringen, was die Menschen dort selbst herstellen.“ Nur Spezielles wie Wundsaugdrainagen führte GHD ein. Manchmal aber auch Kuscheltiere für die Kinder …
„So eine Energie“
Die finanziellen Mittel dazu stammen neben einer kleinen Förderung des Landes Steiermark aus Spendengeldern, die Grisold mit ihren Mitaktivist*innen durch Charity-Events wie Vorträge oder Filmabende lukriert. Die reisenden Ärzt*innen arbeiten ehrenamtlich und in ihrer Freizeit. Für einen Aufenthalt und Hilfeleistung in Indien noch im Februar letzten Jahres (danach waren coronabedingt keine weiteren Aktivitäten möglich) ist es ihr gelungen, über unterstützende lokale Rotary Clubs Gelder aufzutreiben. Ein Charity-Konzert, das im Vorjahr stattfinden hätte sollen, steht nun heuer auf dem Programm, obwohl seine Durchführbarkeit weiterhin in den Sternen steht. Aber so schnell gibt Grisold nicht auf. Betreffend Durchhaltevermögen ist ihr auch der Trust in Salem ein Vorbild: „Es geht so eine Energie von dort aus. Die Menschen arbeiten seit Jahrzehnten mit diesen Patienten und geben nie auf.“
Theoretisch ließe sich die nicht besonders ansteckende Lepra nämlich sogar ausrotten. Wer in der Frühphase mit der Therapie beginnt – und trotz Nebenwirkungen dabei bleibt – wird geheilt. „Die WHO übernimmt die Kosten für die Medikamente, aber für einen rechtzeitigen Therapiebeginn muss man die Betroffenen auch rechtzeitig finden.“ Viele im Trust Versorgte sind mittlerweile sogar ausgeheilt, aber die Krankheit ist bei ihnen so weit fortgeschritten, dass sie völlig deformierte Extremitäten und manchmal auch Augenschäden davongetragen haben.
Ausgestoßen
Trotz unermüdlicher Aufklärungsarbeit durch den Trust werden erste Anzeichen – wie Flecken auf der Haut und Empfindsamkeitsstörungen an Fingern und Zehen – oft noch übersehen. Oder übergangen, denn in einigen Dörfern bedeutet eine Infektion mit dem Mycobacterium leprae nach wie vor den Ausschluss aus der Gesellschaft. Manche Erkrankte leben in simplen Hütten, kaum größer als sie selbst, am Rande des Dorfes, andere gehen in eigene Lepradörfer. Wobei gerade das Gehen mit den durch die Krankheit verursachten deformierten Füßen eine Herausforderung ist. Ein eigener Sandalenschuster versorgt die Patient*innen des Trusts mit individuell geformtem Schuhwerk, da die Verletzungs- und Infektionsgefahr an den gefühllos gewordenen Füßen groß ist. Eine der Spendenaktionen von GHD hat daher Waschschüsseln zur Fußhygiene und dazu jeweils einen Plastikhocker umfasst. „Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man eine Schüssel und einen Hocker übergibt und dafür so viel Dank erhält“, berichtet Grisold nachdenklich. „Die Menschen dort sind so unvorstellbar arm.“
Grenzgängerin
Als Frau ganz allein durch Indien reisen würde sie zwar nicht, aber während ihrer Aufenthalte dort, sagt sie, habe sie nur in einer einzigen Situation Angst: im Straßenverkehr Indiens. Denn Grisold ist keine Ängstliche, ganz im Gegenteil. Sie geht gern an Grenzen. Grenzen des Machbaren, Grenzen in den Köpfen, siehe Tellerrand … Und wenn heuer im Urlaub, wie sie annimmt, kein Auslandsaufenthalt möglich sein wird, plant sie gleich eine E-Bike-Tour vom Bodensee bis zum Neusiedlersee. Doch auch sie, die selbst zwei Facharztausbildungen absolviert hat (jene für Hygiene und Mikrobiologie sowie jene für Infektiologie und Tropenmedizin) und die schon zu Studienzeiten daneben als Demonstratorin am Hygieneinstitut tätig war, hat ein Vorbild in puncto Unermüdlichkeit: Schwester Francina vom Doctor Typhagne Memorial Charitable Trust. „Sie ist über 80 Jahre alt und steht jeden Tag um fünf in der Früh auf. Nach Gebet und Frühstück arbeitet sie, abgesehen von den Mahlzeiten, ununterbrochen bis Mitternacht. Nach ein paar Tagen Zusammenarbeit mit ihr bin ich streichfähig“, gesteht Grisold. Kaum vorstellbar, wenn man die Grazer Med Uni-Professorin so in voller Power erlebt. Sie selbst beschreibt sich als optimistisch, humorvoll und reisefreudig. Die letztgenannte Freude wird im Jahr 2021 wohl noch einmal zu kurz kommen, doch das kann sie nicht nachhaltig bremsen. „Die Projekte laufen auf jeden Fall weiter und die Ideen gehen uns nicht so schnell aus. Vielleicht tauchen neue Projekte auf, kommen neue Partner dazu.“ Energie dafür ist offensichtlich vorhanden.
Ärzt*innen, die sich bei GHD engagieren möchten, können sich bei Andrea Grisold unter andrea.grisold@medunigraz.at melden;
wer spenden möchte, kann das auf folgendes Konto tun:
Zahlungsempfänger: Medizinische Universität Graz
Bank: BA/CA
IBAN: AT93 1200 0500 9484 0004, Innenauftragsnummer: A27703800100; Kennwort: Global Health and Development
Fotos: beigestellt, Bergmann