AERZTE Steiermark 06/2021

 

Long COVID: Gemeinsam gegen das lange Leiden

Long COVID ist in aller Munde. Was da in aller Munde ist, wird aber noch untersucht. Fast täglich kommen neue Erkenntnisse dazu. Die Betroffenen können aber nicht bis zur restlosen Klärung aller offenen Fragen warten. Eines scheint aber klar: Es braucht eine Annäherung an ein chronisches Leiden. Notwendig sind dafür ein breites Behandlungsnetzwerk und die Einbeziehung von Reha- und Kureinrichtungen.

Ursula Scholz
Martin Novak


Vier Wochen kann – laut Definition der Schweizer Ärztenetzwerk-Verbindung Medix – ein akuter COVID-19-Infekt andauern, vier bis zwölf Wochen ein prolongierter. Halten Beschwerden, die nicht durch eine alternative Diagnose erklärbar sind, länger als zwölf Wochen an, wird ein Post-COVID-19-Syndrom diagnostiziert. „Long COVID“ steht, so Corinne Chmiel von der Universität Zürich, für Medix als Überbegriff für alle Symptome, die nach einer akuten COVID-19-Infektion über mehr als vier Wochen persistieren.

Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) definiert Long COVID als eine Vielzahl von Symptomen, „lasting for more than 12 weeks, although some people consider symptoms that last more than eight weeks to be Long COVID.“ Eine generell gültige Begriffsklärung wurde noch nicht gefunden: „Hier ist die Nomenklatur noch im Fluss“, betont etwa das deutsche Ärzteblatt. Auch der Prozentsatz an Betroffenen variiert stark, wobei 10 Prozent zumeist als Untergrenze gelten. „Laut aktueller Literatur leiden je nach Zeitpunkt zwischen 10 und 60 Prozent (oder mehr) der vormaligen COVID-19-Patienten*innen an Folgeschäden einer stattgehabten COVID-19-Erkrankung“, fasst KAGes-Vorstandsvorsitzender Karlheinz Tscheliessnigg zusammen. „Dies betrifft sowohl Menschen mit schweren Verläufen als auch jene, die einen milden COVID-Verlauf hatten. Darüber hinaus scheinen vor allem Frauen zwischen 20 und 40 Jahren besonders von diesen Langzeitfolgen betroffen zu sein.“
 

Auch nach leichter Erkrankung

Wie stark selbst zuvor nur leicht Erkrankte an Long COVID leiden können, dokumentiert eine Ende Mai präsentierte Studie der Uniklinik Köln, die im Juli in The Lancet Regional Health – Europe erscheinen wird. 958 Patient*innen wurden dafür befragt; 442 beziehungsweise 352 davon wurden über vier/sieben Monate hinweg begleitet und dabei die vier häufigsten Langzeit-Auswirkungen einer COVID-19-Infektion detektiert: Atembeschwerden wie Kurzatmigkeit, Anosmie, Ageusie und Fatigue. Bei allen vier Symptomen lag der Prozentsatz der Betroffenen vier Monate nach ihrer Akutinfektion bei jeweils rund zehn Prozent. Knapp 28 Prozent litten unter mindestens einem der Symptome.

„Die bekanntesten Symptome dabei sind ausgeprägte Erschöpfung, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schwäche, Gedächtnisstörungen, Luftnot, Brustschmerzen, Herzrasen, Husten, Geruchs- und Geschmacksverlust, Kreislaufschwäche, Schlafstörungen, und Depressionen. Die Langzeitfolgen können schwerste Organschäden von Lunge, Herz, Leber, Niere und dem zentralen Nervensystem umfassen“, erklärt Tscheliessnigg das Krankheitsbild von Long COVID.
 

Nicht in Notfallambulanzen!

Ungeachtet dessen, ob zehn oder mehr Prozent von den Langzeiteffekten ihrer Infektion betroffen sein werden: In den nächsten Monaten wird die Erkrankung zusätzlich zu denen, die bereits darunter leiden, weitere Tausende Steirerinnen und Steirer betreffen. Mit Stichtag 30. Mai 2021 wurden laut steirischer Landesstatistik insgesamt 79.058 bereits an COVID-19 Erkrankte verzeichnet. Selbst bei optimistischer Prognose ergibt das rund 8.000 Long COVID-Patient*innen. Wer soll sie betreuen? „Ich bin nicht damit einverstanden, dass man das in den Notfallambulanzen ansiedelt. Das geht auf Kosten der Versorgung. Long COVID ist eine chronische Erkrankung, die Patienten brauchen mehr Zeit, sie leiden sehr“, findet der steirische Ärztekammerpräsident Herwig Lindner klare Worte. „Auch, weil es sich bei COVID um eine Multiorganerkrankung handelt, die oft auch Gefäße und die Nerven betrifft. Das ist eine Herausforderung und braucht auch eine klare Abgrenzung zu anderen Zuständen wie Depression, Mangelzustände oder Burnout.“
 

Strukturen im Werden

Nicht nur den Ärztinnen und Ärzten, auch den Entscheidungsträgern ist die Brisanz der (bevorstehenden) Lage bewusst – und sie sprechen sich für die Schaffung der notwendigen Versorgungsstrukturen aus: „Die Pandemie ist noch nicht vorbei und viele Menschen in der Steiermark leiden an den Folgen ihrer COVID-19-Erkrankung. Um die neue Krankheit Long COVID als auch andere Folgeerscheinungen einer COVID-19-Infektion differenziert einzuschätzen und entsprechend rasch Behandlungskapazitäten und Zuständigkeiten in der Steiermark zu klären, lade ich zu einem runden Tisch mit Betroffenenvertretern, den Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenanstalten und des Gesundheitsfonds ein“, begründet Landesrätin Juliane Bogner-Strauß. „Ich danke schon jetzt für das Aufeinander-Zugehen bei diesem wichtigen Thema.“

Für den 2. Juni waren Maarte Preller, Gründerin der österreichischen Long-COVID-Selbsthilfegruppe, KAGes-Vorstandsvorsitzender Tscheliessnigg, Ärztekammerpräsident Lindner, der Ärztliche Leiter der Provinz der Barmherzigen Brüder, Gerhard Stark, Vinzenz Harrer von der Österreichischen Gesundheitskasse, der Generaldirektor der Pensionsversicherungsanstalt Winfried Pinggera sowie der Geschäftsführer des Gesundheitsfonds Steiermark, Michael Koren, zum Runden Tisch geladen.
 

Umfassendes Angebot nötig

Schon im Vorfeld betonte KAGes-Vorstandschef  Tscheliessnigg die Notwendigkeit geeigneter Versorgungsstrukturen: „Diese neue Herausforderung für das Gesundheitssystem bedarf der Organisation einer integrierten Versorgung für diese stark wachsende Patientengruppe, die möglichst durchlässig vom niedergelassenen Bereich über Ambulanzen, Tageskliniken bis hin zum stationären Bereich einen interdisziplinären Behandlungspfad anbietet, der zur Aufgabe hat, diese Patienten möglichst rasch wieder ins aktive, normale Leben zurückzuführen.“

Der steirische Ärztekammerpräsident, selbst Infektiologe, weist darauf hin, dass für Menschen mit Long COVID ein sehr spezifisches Angebot geschaffen werden muss: „Für Patienten mit Long COVID ist eine Tagesreise nach Graz eine Tortur. Für chronisch erkrankte Menschen muss eine wohnortnahe Behandlung sichergestellt werden, es braucht ein Versorgungskonzept für die ganze Steiermark, bestehend aus Hausarzt und Fachärzten wie Internisten, Pneumologen, einem multiprofessionellen Team samt Diätberatung, Physio- und Psychotherapeuten. All jene, die so nicht versorgt werden können, sollten in eine spezielle Ambulanz kommen.“ Und für Lindner steht fest: „Bei diesem Konzept müssen Land, Gesundheitskasse und Ärztekammer an Bord.“

 

Blick über die Grenze: Best Practice aus Deutschland

Auch im nördlichen Nachbarland Österreichs bilden sich gerade – meist on top auf Bestehendes – neue Versorgungsstrukturen heraus.
 

Essen: Zwei Ambulanzen und ein großes Netzwerk

Am Universitätsklinikum Essen, das neben der Berliner Charité deutschlandweit am meisten COVID-19-Akutpatient*innen betreut hat, wurden zur Nachsorge und zur Versorgung der Long-COVID-Patient*innen sowohl an der Klinik für Neurologie als auch an der Klinik für Infektiologie jeweils eine Spezialambulanz eingerichtet. Christoph Kleinschnitz, Leiter der neurologischen Klinik, verweist jedoch auf die Durchlässigkeit der beiden Ambulanzen und betont die interdisziplinäre Vernetzung innerhalb des gesamten Klinikums: „Zu einem guten Long-COVID-Netzwerk gehören unbedingt Infektiologen, Virologen, Pneumologen, Neurologen und Experten in Psychosomatik. In einigen Fällen ist auch eine kardiologische oder nephrologische Expertise gefragt.“ Kleinschnitz analysiert gerade die Daten seiner ersten Publikation zu Long COVID (über die akute Infektion hat er mehrfach publiziert), in die 100 Patient*innen mit ausgeprägten neurologischen Symptomen integriert wurden. Bei den beobachteten Symptomen handelt es sich meist um Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen, Fatigue und chronischen Kopfschmerz. „Immer wieder kommt es auch zu Überlappungen mit psychiatrischen Diagnosen wie Angststörungen oder Depressionen.“ Da sich die Studie erst in Ausarbeitung befindet, möchte Kleinschnitz noch keine Details veröffentlichen.
 

„Braucht kritische Masse“

Nur so viel: In Essen sind drei Viertel der von Long COVID Betroffenen weiblich – und das, obwohl an der Essener Uniklinik wie auch sonst in der Akutphase von COVID-19 mehr Männer hospitalisiert wurden. Im Mittel sind seine Studienteilnehmer*innen 44 Jahre alt, jedoch mit einer breiten Range zwischen 22 und 74 Jahren.

Auf der Suche nach fassbaren organischen Ursachen für die Beschwerden wird ein weites Spektrum an Diagnostik angewandt: von der elektrophysiologischen Untersuchung bis zu neuropsychologischen Testungen. Aufgrund der erforderlichen interdisziplinären Strukturen und der notwendigen Diagnostikmöglichkeiten von der Kernspintomographie bis zur Untersuchung von Nervenwasser sieht er als optimale Standorte für Long-COVID-Ambulanzen ausschließlich die Universitätskliniken, die auch für die entsprechende wissenschaftliche Begleitung sorgen können. „Es braucht eine kritische Masse, und die Ambulanzen sind nur on top auf bestehenden Ambulanzen sinnvoll.“ Die Hürde der Anreise, gerade für Menschen mit Chronischer Fatigue, sieht er als überwindbar an, indem Angehörige die Betroffenen begleiten.

Die Primärversorger*innen glaubt Kleinschnitz bereits ausreichend über das neue Syndrom und die bestehenden Ambulanzen informiert; lediglich ein regelmäßiges Update über aktuelle Studienergebnisse halte er für angebracht.

Die zweimal wöchentlich stattfindende Spezialsprechstunde an seiner Klinik ist auf zwei Monate im Voraus ausgebucht, die Nachfrage enorm. „Die Beschwerden können durchaus ein halbes Jahr oder darüber hinaus andauern“, erklärt Kleinschnitz. „Aber ich halte die Prognose für sehr gut.“
 

Ulm: Ausgangspunkt sportmedizinische Ambulanz

Am Universitätsklinikum Ulm ist die Long-COVID-Ambulanz an die sportmedizinische Ambulanz der Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin gekoppelt. „Wir betreuen primär Sportler, aber auch andere Patienten“, betont der Ärztliche Leiter der Sektion, Jürgen Steinacker. „Allerdings übernehmen wir ausschließlich Patienten mit Long COVID, die in ihrer Akutphase nicht künstlich beatmet wurden.“ Persistierende Müdigkeit und depressive Verstimmung, so Steinacker, seien bereits von anderen Viruserkrankungen bekannt. „Nach einer COVID-19-Erkrankung jedoch treten diese Symptome viel häufiger, stärker und über einen längeren Zeitraum hinweg auf.“ Long COVID nimmt Steinacker als „Multiorgansystem-Problem“ wahr, mit vermutlich unkontrollierten Entzündungen in diversen Organen und einer möglichen Dysfunktion der Makrophagen. Long COVID sei eher zu komplex, um von Allgemeinmediziner*innen behandelt zu werden – es brauche die Infrastruktur für eine umfassende Diagnostik. Seine Ambulanz verfügt über ein breites internistisches Spektrum und ein gut aufgestelltes Labor; daneben pflegt er eine enge Kooperation mit Radiologen, Neurologen und Psychologen. Steinackers Team nähert sich Long COVID aber auch aus genetischer Perspektive und hat bereits spezielle Expressionen von Genen gefunden, die mit der Erkrankung korrelieren.

Den Einsatz von Psychopharmaka oder Schlafmitteln als rein symptomorientierte Behandlungsstrategie sieht er kritisch, betont aber, dass noch viel Expertise dazu gesammelt werden müsse. „Psychologische Elemente sind sehr wichtig“, betont er. Aber auch: „Man wird mit den Symptomen schnell ins psychische Eck gestellt. Ich glaube, wir werden da noch viel lernen müssen.“ Wenn sich eine 22-jährige Sportlerin nach zehn Minuten Gehen vor Überanstrengung ins Bett legen muss, „sind wir gezwungen, uns mit dieser Realität auseinanderzusetzen“.
 

Ambulante Reha

Zur langfristigen Versorgung von Long-COVID-Patient*innen würde Steinacker eine ambulante Reha mit multimodalem Training bevorzugen, die neben regelmäßigen medizinischen Checks, Laboruntersuchungen, psychologischen Gesprächen und einem medikamentösen Konzept auch Übungseinheiten zu Hause umfassen sollte. „Ich persönlich halte ambulante Maßnahmen wegen dem langen Verlauf von Long COVID für wichtiger und geeigneter als stationäre Rehabilitation. Letztere ist für Patienten nach stationärer Intensivbehandlung, insbesondere nach Langzeitbeatmung, sinnvoll.“
 

Berlin: Sprechstunde für Chronische Fatigue

Die bereits zuvor etablierte Sprechstunde für Chronische Fatigue der Immundefektambulanz des Instituts für Medizinische Immunologie an der Berliner Charité wurde in den vergangenen Monaten zur stark frequentierten Anlaufstelle für Menschen mit Long COVID, die unter Fatigue leiden. Eine direkte Kontaktaufnahme mit der stellvertretenden Institutsleiterin und CFS-Expertin Carmen Scheibenbogen war leider bis Redaktionsschluss nicht möglich. In einem Interview mit der ZEIT ONLINE hat sie aber die Grundzüge ihrer Arbeit erklärt. An der Spezialambulanz aufgenommen werden können – trotz zusätzlich eingerichteter Sprechstunde – nur Betroffene, die sechs Monate nach der Akutinfektion noch unter Chronischer Fatigue leiden. „Zum einen, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass die Erschöpfung, die viele am meisten quält, drei bis sechs Monate nach der akuten Infektion in vielen Fällen von selbst aufhört. Zum anderen aber auch einfach, weil die Warteliste inzwischen so lang ist“, erklärt Scheibenbogen. In ihrer Ambulanz trifft sie auf zusätzliche Symptomatik wie brain fog oder Störungen des autonomen Nervensystems. Derzeit werden gerade Daten einer großen epidemiologischen Studie ausgewertet, die Informationen darüber liefern sollen, wie häufig eine Corona-Infektion in ein CFS mündet. „Ich schätze, dass etwa ein bis zwei Prozent der positiv Getesteten anschließend ein CFS entwickeln. Das klingt nicht viel, aber wenn man es hochrechnet, erwarte ich in Deutschland Zehntausende chronisch kranke Menschen im besten Alter“, so Scheibenbogen.
 

Selbstbeobachtung

Eine gezielte Therapie gibt es noch nicht. Scheibenbogen behandelt die Symptome wie Schlafstörungen und Schmerzen, fokussiert auf die Selbstkompetenzen der Betroffenen, aber auch auf Entspannung und konsequente Reduktion vermeidbarer Stressfaktoren. Mittels Aktivitätstrackern können die Patient*innen nachverfolgen, wie viel Zeit sie in welchem Aktivitätsgrad verbracht haben und wie sich ihr Puls dabei entwickelt hat. Das Ziel ist, selbst abschätzen zu lernen, was zumutbar ist. Denn bereits auf kleine Überlastungen können Wochen folgen, in denen die Betroffenen das Bett hüten müssen.

Wie auch bei Chronischer Fatigue nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus vermutet Scheibenbogen, dass die Heilungschancen der Jüngeren besser sind. Von ihnen, so ihre Erfahrung, werden zwei Drittel wieder gesund. Allerdings manchmal erst nach Jahren. Nicht alle treffen in dieser Zeit auf Akzeptanz ihres Leidens: „Selbst manche Professoren tun die Erkrankung noch heute als psychisch ab, sie wird von vielen in ihrer Schwere nicht ansatzweise anerkannt.“
 

Wyk auf Föhr: Rehabilitation mit Nachsorge

Als am 16. März 2020 die Nordseeinsel Föhr für Nichtbewohner*innen komplett geschlossen wurde, stand die Nordseeklinik Westfalen, spezialisiert auf Rehabilitation bei Lungenerkrankungen, vor einem Problem: Es durfte zwar gearbeitet werden, aber kein Kurgast mehr anreisen. In regem Austausch mit der onkologisch orientierten Schwesternklinik auf der Insel sowie internationalen Expert*innen wie dem damaligen Leiter einer europäisch-US-amerikanischen COVID-19-Task-Force, dem niederländischen Rehabilitationsexperten Martijn Spruit, begann man sofort, das bisherige Lungen-orientierte Reha-Konzept an die zu erwartenden Patient*innen anzupassen, erzählt Klinikleiter Ralf Jochheim.

Mit dem Verlauf der Pandemie lernte das Team der Rehaklinik dazu und erarbeitete neben dem Fokus auf die Lunge vor allem auch psychologische Unterstützung wie Resilienztraining und ein Übungsprogramm für den olfaktorisch-gustatorischen Bereich. „Mitte April hatten wir ein erstes Konzept mit Fokus auf Ernährung, Atemwegstherapie und Physiotherapie, das wir unserem Hauptbeleger vorgeschlagen haben“, erzählt Jochheim. Noch bevor es das Wort „Long COVID“ gab, kamen die ersten Betroffenen ins Haus, rund 70 Prozent mit Riech- und Schmeckstörungen. Deshalb wurde das Programm, das heute unter der Marke CORONACH® praktiziert wird, entsprechend erweitert.
 

Unerwartete Vollbremsung

In einem Punkt unterscheiden sich die Long-COVID-Patient*innen von Asthma- und COPD-Patient*innen: „Wer mit Asthma oder COPD zu uns kommt, hat sich meist jahrelang mit seiner Erkrankung beschäftigt und lebt mit seinen Einschränkungen. Die Menschen mit Long COVID hingegen haben mitten im Leben eine Vollbremsung erfahren. Die überfordern sich gerne selbst. In der ersten Woche müssen wir ihnen Entspannungstechniken ebenso beibringen wie die Fähigkeit, kleine Erfolge zu feiern.“ Auf sehr positive Resonanz, so Jochheim, stößt der Erfahrungsaustausch in der Gruppe.

Gemeinsam mit der Universitätsklinik Lübeck beobachtet seine Klinik auch die Nachhaltigkeit von CORONACH®. Jede/r einzelne Patient*in wird noch sechs Wochen nach Abschluss der Reha weiterbetreut, führt ihr/sein Erfolgstagebuch und kann sich in Krisensituationen an die Klinik wenden. Eine Sortierung nach Symptomatik in pneumologische, neurologische und psychosomatische Rehabilitation hält Jochheim für wichtig und betont, dass sein Programm sich speziell an Menschen mit Lungenproblemen richtet. Trotz dieser Spezialisierung könnte er derzeit sein 120-Betten-Haus locker vier- bis fünfmal belegen, so groß ist die Nachfrage.
 

5 Millionen für Forschung

Last but not least bleibt zu erwähnen, dass die deutsche Bundesforschungsministerin Anja Karliczek Ende Mai bekanntgegeben hat, Forschungsvorhaben zum Thema COVID-19-Spätsymptome mit rund fünf Millionen Euro zu fördern. Das Geld soll dabei helfen, die Ursachen wie Therapiemöglichkeiten für Long COVID zu erforschen und den weiteren Forschungsbedarf auszuloten.
 

Geschwächt und doch aktiv: Was Betroffene einbringen

Der Dialog ist das Um und Auf in der Betreuung von Menschen mit Long COVID: Betroffene wissen am besten über ihr Erleben Bescheid, Ärztinnen und Ärzte sind die Expert*innen für die einzelnen Symptome. Im Austausch gewinnen sie neue Erkenntnisse.

Der Gesprächstermin beim damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober war für Maarte Preller, Gründerin der Selbsthilfegruppe Long COVID Austria, ein Meilenstein. Endlich konnte sie einem Entscheidungsträger nahebringen, was Long COVID für Betroffene bedeutet und welche medizinischen Versorgungsstrukturen sie benötigen. Was sich die Wenigsten vorstellen können: Nach dem Termin in Wien kam Preller mehrere Tage kaum vom Sofa hoch, so erschöpft war sie.
 

Breites Spektrum

„Für uns ist es wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Long COVID eine Fülle von Erscheinungsformen zeigt“, betont Preller. „Manche Menschen leiden nach langen Aufenthalten auf Intensivstationen unter dem PICS, andere sind durch psychische oder physische Vorerkrankungen vorbelastet. Eine dritte Gruppe hatte keinerlei Risikofaktoren und ist trotzdem sehr krank.“ Preller vergleicht Long COVID in diesem Punkt mit Autismus: „Es gibt ein sehr breites Spektrum.“

Die Selbsthilfegruppe pflegt eigene Kontakte zu Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen, die sensibel mit dem Thema Long COVID umgehen, aus der Pulmonologie, Kardiologie, Neurologie und Psychiatrie. „Wir würden uns auch noch ärztliche Expertise im Bereich Mikronährstoffe, Metabolismus und Hormone wünschen. Und wir brauchen Experten für die Fatigue, die oft noch als psychisches oder psychosomatisches Problem missverstanden wird.“
 

Ambulanz als Netzwerk

Für die Primärversorger, die ja als erste Ansprechpartner vor der Herausforderung der Diagnose stehen, wünscht sie sich eine entsprechende Fortbildung. Die weitere Abklärung und Behandlung würde sie in Long-COVID-Ambulanzen ansiedeln, damit die Betroffenen nicht von einem Facharzt zum anderen pilgern müssen. Ihre eigene Erstdiagnostik hat sich über drei – anstrengende! – Monate hingezogen.

In spezialisierten Ambulanzen im multiprofessionellen Team sei an den vielen Patient*innen auch ein rasches Dazulernen über Long COVID möglich. Ein bis zwei Ambulanzen pro Bundesland wären für Preller ein wünschenswerter Standard. „Das kostet Geld, spart aber längerfristig gesehen.“ In ihrer Facebook-Gruppe, die mittlerweile mehr als 900 Mitglieder umfasst, begegnen Preller immer wieder Menschen, die nicht wussten, wohin sie sich wenden sollen.
 

Sanfte Reha

Äußerst kontraproduktiv sei der reine Fokus auf die psychische Komponente, bloß weil die körperlichen Beschwerden nicht durch eindeutige Laborergebnisse belegt werden können. Dass Preller allen Betroffenen psychologische Betreuung empfiehlt, steht dazu nicht im Widerspruch: Hierbei handelt es sich um eine begleitende Unterstützung, aber nicht um die grundsätzliche Erklärung des Phänomens Long COVID.  Ein ganz wichtiger Schritt sei der Konsens darüber, dass die Erkrankung überhaupt existiert.

Gute Erfahrungen hat Preller mit „pacing“ gemacht, dem vorsichtigen Ausloten der eigenen Grenzen. Dazu empfiehlt sie Betroffenen das Tragen einer Pulsuhr, um das Erreichen der individuellen Belastungsgrenze sofort rückgemeldet zu bekommen. Das unbedingte Vermeiden einer Überlastung – ansonsten kann der Rückschlag, siehe Ministerbesuch, Tage und Wochen dauern – müsse auch Grundlage jeder Rehabilitationsmaßnahme sein. Als Positivbeispiel nennt Preller die Post-COVID-Reha für Kinder und Jugendliche „kokon“ im oberösterreichischen Rohrbach-Berg.
 

Vlog zu Long COVID

Auch die Wiener Long-COVID-Patientin Yvonne Anreitter stellt ihre Erfahrungen – unter dem Pseudonym Karla Küken – der Allgemeinheit zur Verfügung, wenn auch auf anderem Wege. Sie hat auf Youtube einen Video-Blog gegründet und informiert einerseits über nicht so bekannte Symptome wie das Mastzellen-Aktivierungssyndrom MCAS oder das Posturale orthostatische Tachykardiesyndrom POTS, hinterfragt aber in ihrem aktuellsten Beitrag vom 30. Mai auch, ob sich Menschen mit Long COVID gegen COVID-19 impfen lassen sollen. In ihrem „früheren Leben“ hat sie noch Tipps gegeben, wie man selbst einen Mund-Nasen-Schutz näht ...

Karla Kükens Vlog: www.youtube.com/channel/UCSt4a_JGEOPocd-199vdWmQ

 

Fotos: Adobe Stock, beigestellt, Adobe Stock

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