AERZTE Steiermark 10/2021
„Kein Rüscherl nähen“
Martina Lemmerer hat in der Salzburger „Kaderschmiede“ Modedesign sowie Damen- und Herrenkleidermacher gelernt und näht noch heute mit Passion. Mit 17 aber fühlte es sich an, als hätte sich in ihr ein Schalter umgelegt und sie wusste: Ihre Berufung ist die Chirurgie.
Ursula Scholz
Was Gretchen lernt, kann Margarethe gut brauchen. Könnte man sagen. Zumindest auf Martina Lemmerer trifft diese veränderte Binsenweisheit zu. Sie sprühte schon als Kind vor Kreativität, saß mit zehn an der Nähmaschine, entwarf und gestaltete Mode und Schmuck. Ihre Eltern versuchten, ihren Wunsch, Künstlerin zu werden, in realistischere und finanziell abgesicherte Bahnen zu lenken, indem sie die Tochter aus dem Ennstal an die Höhere Lehranstalt für Mode & Bekleidungstechnik nach Hallein schickten. Dass sie die dort erworbenen Fähigkeiten einmal im OP anwenden würde, war zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema. „Mit 17 war es, als sei in mir ein Schalter umgelegt worden. Da habe ich gewusst: Ich werde Chirurgin, das ist meine Berufung“, erzählt Lemmerer. Bei ihren vielfältigen Interessen und Talenten von der Segelfliegerei (mit 19 hat sie heimlich den Flugschein gemacht) bis hin zum Möbeldesign ist es eigentlich ein Wunder, dass es ihr so leicht fiel, sich auf eine berufliche Zukunftsvision festzulegen.
Vom Berg geprägt
Der Wechsel von der Mode zur Medizin war jedenfalls nicht mangelnden Erfolgen an der Schule für Modedesign geschuldet, ganz im Gegenteil: Nicht nur, dass Lemmerer, die ihr Heimweh nach dem Ennstal mit einem kraftvollen Vorwärtsdrang bewältigte, gleich im ersten Jahrgang zur Schulsprecherin – und später zur jüngsten Landesschulsprecherin – avancierte. Sie schuf auch Kreationen, die bei den legendären Modenschauen ihrer Schule gezeigt wurden, moderierte diese Veranstaltungen und war bereits zu Schulzeiten für das Modelabel Gössl sowie als Designerin für einen Film tätig. Auch der Spaß am Schneiderhandwerk ist ihr bis heute erhalten geblieben: „Ich habe mir mein gesamtes Studium unter anderem damit finanziert, Dirndln und Hirtenhemden zu nähen. Und vor kurzem habe ich einen neuen Überzug für meine Hollywood-Schaukel gemacht.“ Die Affinität zur Tracht ist eine tief empfundene und hat sich nicht nur aus der Kooperation mit der Firma Gössl ergeben, sondern auch aus enger Heimatverbundenheit. „Zu Schulzeiten haben wir die historischen Vorlagen für die Irdninger Festtagstracht ausgegraben und sie nachgenäht.“ Noch heute, nach langen Jahren in Graz, pflegt Lemmerer ihre Ennstaler Wurzeln. Dazu gehören die familiären Bande, aber auch die Verbundenheit mit dem Grimming, Europas höchstem freistehendem Berg. „Der Berg prägt. Vielleicht kommt daher die typische Ennstaler Sturheit“, merkt Lemmerer leicht ironisch an.
Führt das Rudel
Stur musste sie sein. Um überhaupt Medizin studieren zu können, holte sie die Biologie-Matura als Externistin nach und absolvierte das Latinum. Während der Studienzeit fokussierte sie sich auf die Chirurgie, knüpfte erste Kontakte zur Klinik und ließ sich nie davon beirren, dass sie im Begriffe stand, eine Männerdomäne zu erobern. Aufgewachsen als ältere Schwester zweier Brüder war es für sie immer selbstverständlich, das Rudel anzuführen, auch wenn der Rest der Gemeinschaft männlich war. „Ich hab eine gewisse autoritäre Ader, aber die braucht man in der Chirurgie“, lautet ihr Kommentar dazu. Bodenständig, hilfsbereit und strukturiert – so sieht sie sich überdies. Tatkräftig und wissbegierig zudem. Bei dem Programm, das die Mutter eines 14-Jährigen im Alltag absolviert, braucht sie all den Tatendrang. Kraft gibt ihr auch die Arbeit im Garten, der ihr Haus aus dem Jahr 1861 umgibt, und der die eigenhändig revitalisierte Hollywood-Schaukel beherbergt. Lemmerer baut ihr eigenes Gemüse an – und erfreut sich zu jeder Jahreszeit am großen Kirschbaum. „An den Blüten, den Früchten und dem sich verfärbenden Laub. Und im Winter überlege ich, wie ich ihn nach der Ernte dann schneiden werde.“ Denn auch darin liegt ihr besonderes Können: im Schneiden.
„Schnitt muss sein“
Lemmerer beackert das weite Feld der Viszeralchirurgie, hat sich aber besondere Expertise im Bereich der Colorectalchirurgie erworben. Ein bisschen, meint sie, sei ihr Berufswunsch schon vom Krebstod ihrer Tante beeinflusst worden. Danach wollte sie den Krebs besiegen, indem sie ihn herausschneidet. „Manchmal muss ein Schnitt gemacht werden, damit die Lebensqualität wieder steigt.“ In den beiden vergangenen Jahren hat sie zusätzlich zu ihrem Job auf der Chirurgie am LKH-Universitätsklinikum in Graz auch noch die interimistische Leitung der Endokrinchirurgie übernommen. In naher Zukunft wird sie ihren Operationskatalog nochmals ganz breit aufstellen: „Mit Dezember werde ich Primaria an der chirurgischen Abteilung an der Privatklinik Villach“, verrät sie. Erst vor drei Jahren wurde sie von den Barmherzigen Brüdern an die Uniklinik geholt, wo sie zur Zeit als Leitende Oberärztin tätig ist. Auch in ihrem Leben ist von Zeit zu Zeit ein sauberer Schnitt notwendig …
Leid um die Steiermark
„Um die Steiermark tut es mir schon leid“, sagt die zukünftige Beute-Kärntnerin, die schon im Turnus einmal kurz Kärntner Luft geschnuppert hat. In der Heimat ist sie in der Standesvertretung äußerst engagiert, als Mitglied des Ausschusses ärztliche Ausbildung ebenso wie des Referats Arztberuf und Familie. Seit 2017 fungiert sie zudem als Jurymitglied für den Dr. Michael Hasiba-Preis der steirischen Ärztekammer. All ihre – auch überregionalen – Funktionen und Engagements aufzuzählen, ginge auf keine Kuhhaut.
Womit wir bei jener Sparte des Nähens angelangt wären, wo sich Textilkunst und chirurgische Heilkunst sozusagen die Hand geben: beim Nähen von Leder. „Ich arbeite noch mit der alten Singer-Nähmaschine meiner Großmutter. Da ist alles manuell einzufädeln, dafür kann sie Leder nähen“, schwärmt Lemmerer. „Das hat etwas Chirurgisches an sich: Jeder Stich, der einmal gemacht wurde, bleibt. Auftrennen kann man da nichts.“ Die Feinarbeit, das Gespür für verschiedene Gewebe, dickes und dünnes Material miteinander verbinden zu können, „einhalten“ zu müssen beim Zusammenfügen wegrutschender Teile – all das verbindet Lemmerers Nähkunst mit der chirurgischen Expertise. „Und hier wie da musst du darauf achten, kein Rüscherl hineinzunähen.“ Also stets völlig glatte Nähte zu produzieren. Tempo und Präzision bei der Darmanastomose haben ihr im Team der Barmherzigen Brüder den Beinamen „die Nähmaschine“ eingebracht.
Meer & Möbeldesign
Naturerlebnisse und Nähen bilden den Kontrapunkt zu Lemmerers forderndem Arbeitsalltag. Trotz dichter Taktung macht er sie glücklich: „Ich habe mein Lebensziel erreicht, eine anerkannte Chirurgin zu sein, die Menschen hilft.“ Träume bleiben natürlich offen: „Ein Haus am Meer“ zum Beispiel. Nach einer ausgedehnten Bali-Reise in Vor-Corona-Zeiten ist auch da ein Stück Sehnsucht nach Wiederkehr offen geblieben. Nach der Pensionierung. Da will Martina Lemmerer auch wieder mehr Zeit für handwerkliche Tätigkeiten finden. Möbeldesign und Innenarchitektur locken sie, festlegen will sie sich noch nicht. „Das wird sich alles ergeben.“
Fotos: Martin Stelzer (Universitätsklinik für Chirurgie), privat, Simon Lemmerer