AERZTE Steiermark 09/2024

 

PVE: Gut oder schlecht?

Die Skepsis gegenüber Primärversorgungszentren und -netzwerken ist groß. Außer bei Ärztinnen und Ärzten, die dort arbeiten. Und vielen Patientinnen und Patienten.

Die erste steirische PVE (Primärversorgungseinheit) wurde 2017 als Gesundheitszentrum Mariazell eröffnet. Einige der niedergelassenen Ärzt:innen in der Region waren damals skeptisch und fürchteten die Konkurrenz. Nicht ganz zu Unrecht. Gegründet wurde am Spitalsstandort, der eigentlich in der Nachbargemeinde des Marienwallfahrtsortes, in St. Sebastian, lag.  Die Kosten für das nichtärztliche Gesundheitspersonal trug die KAGes. Der damalige Bürgermeister von Mariazell, Manfred Seebacher, soll bei einer steirischen Gesundheitskonferenz in einer Rede gesagt haben, dass es zwar kein Gesetz für ein Gesundheitszentrum geben mag, eines dagegen sei ihm aber auch nicht bekannt.


Wie viele dürfen es denn sein?

Mittlerweile ist einiges Wasser die Mur hinuntergeflossen, Seebacher ist seit 2020 nicht mehr Bürgermeister und ein Gesetz als PVE-Grundlage gibt es. Dieses Primärversorgungsgesetz ermöglicht, was lange in der Steiermark verpönt war: eine PVE nicht als Zentrum, sondern als Netzwerk eigenständiger Ärztinnen und Ärzte. Ein solches Netzwerk namens Schöcklblick gibt es inzwischen. Dem stehen ein gutes Dutzend Zentren in unterschiedlichen Strukturen gegenüber: Teils wurden sie von erfahrenen Allgemeinmediziner:innen gegründet, die schon zuvor tätig waren und nur die Strukturen geändert haben (Beispiele sind die PVE-Liezen, das Gesundheitszentrum Weiz oder auch das Gesundheitszentrum Gratwein-Straß­engel). Teils wurden sie völlig neu gegründet (Beispiele sind Medius im Grazer Bezirk Geidorf unmittelbar vor dem LKH-Universitätsklinikum, die Allgemeinmedizin Graz Gries, die Lendarztpraxis oder das Gesundheitszentrum Reininghaus).

Zur Gesamtzahl der PVE in der Steiermark schwanken die Angaben: Die Plattform Primärversorgung (von der EU mit 100 Millionen Euro bis 2026 gefördert) und die ÖGK (siehe Kasten) haben 13 aufgelistet, beim Landesgesundheitsfonds sind es 15, weil dort noch das GZ Eisenerz – mit nur mehr einem Arzt – und das GZ Friedberg, das zum GZ Joglland gehört, gesondert aufscheinen.

Wichtig zu wissen ist, dass PVE in der Regel Einzelpraxen ablösen, also die medizinische Grundversorgung mit den Einzelpraxen sicherstellen. Sie sind kein Add-on.


Die 5-Prozent-Klausel

Für allgemeinmedizinische PVE gibt es seit 1. Juli 2023 eine „Gesamtvertragliche Vereinbarung“, abgeschlossen zwischen ÖGK und Ärzte­kammer Steiermark, die auf der bundesweiten PVE-Regelung aus dem Jahr 2019 basiert. Darin ist festgelegt, dass eine PVE entweder ein Zentrum oder ein Netzwerk sein kann. Ein Zentrum kann als Offene Gesellschaft oder als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisiert sein. Für ein Netzwerk ist ein Verein möglich.

Die Primärversorgungsstandorte sollen laut diesem Vertrag „aus bestehenden Strukturen entwickelt werden, um Parallel- und Doppelstrukturen zu vermeiden“. Das heißt im Klartext: Einzelplanstellen sollen in eine PVE eingebracht werden.

Finanziert wird die PVE über eine Grundpauschale pro Jahr und teilnehmender Ärztin/teilnehmendem Arzt, Fallpauschalen pro Patient:in und Quartal sowie einer begrenzten Zahl von Einzelleistungen. Über diese sollen aber nur 18 Prozent des gesamten Erlöses der PVE erzielt werden.

Zusätzlich wurde ein finanzielles Sicherheitsnetz eingezogen, um sicherzustellen, dass PVE-Ärztinnen und -Ärzte gegenüber der Tätigkeit in ein der Einzelpraxis oder einer „normalen“ Gruppenpraxis nicht ins Hintertreffen geraten.

Im Vertrag heißt es: „Ergibt sich im Einzelfall, dass ein Vertragsarzt, der seine Planstelle in eine PVE einbringt, bei gleichbleibender Arbeitsleistung und mindestens gleicher Anzahl an Behandlungsfällen gegenüber seiner Tätigkeit in der bisherigen Einzel- oder Gruppenpraxis nicht mehr verdient als vorher (Einkommen vor Steuer), so kann er unter Nachweis der ÖGK-Einkommensentwicklung und seiner Leistungsdaten einen Ausgleich dahingehend beantragen, dass sich sein Einkommen in der PVE gegenüber dem Einkommen in der Einzel- oder Gruppenpraxis um maximal 5 % erhöht.

Dieser Antrag kann nur pro Kalenderjahr gestellt werden und maximal für die ersten drei Jahre nach dem Übertritt in die PVE.

Beim Einkommensvergleich mit der Tätigkeit in der Einzel- oder Gruppenpraxis ist die Ausgangslage analog der Tarifanhebung im Bereich Allgemeinmedizin zu valorisieren.“ 5 Prozent mehr Einkommen in der PVE sind also garantiert.


Teamstrukturen

Drei Ärztinnen oder Ärzte in Vollzeit (Verpflichtung zur nachweislichen Erbringung eines Tätigkeitsausmaßes von mindestens 20 Wochenstunden Ordinationstätigkeit je VZÄ) bilden gemeinsam mit einer diplomierten Pflegekraft (DGKP) und einer Ordinationsassistenz das Kernteam einer PVE. Die Pflegekraft muss allerdings nur bei 3 Vollzeit-Ärzt:innen nur halbtags angestellt sein, die Ordinationsassistenz „im erforderlichen Ausmaß“.

Die Mindestöffnungszeit bei 3 Vollzeitärzt:innen beträgt 40 Stunden/Woche (Montag bis Freitag, jeweils Vormittag und Nachmittag, inklusive Tagesrandzeiten, ganzjährig). „Die Konkretisierung der Vorgaben für Mindestöffnungszeiten für jede PVE erfolgt unter Berücksichtigung der regionalen Bedürfnisse und Gegebenheiten im Rahmen des jeweiligen Primärversorgungsvertrages“, so die Vereinbarung.

Zum Kernteam kommt ein erweitertes Team. Es besteht aus zumindest drei Angehörigen  nichtärztlicher Gesundheits- und Sozialberufe. Möglich sind Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen, Logo­päd:innen, Diätolog:innen, Psychotherapeut:innen, Hebammen, Sozialarbeiter:innen und Klinische Psycho­log:innen.

Die Finanzierung des erweiterten Teams sowie allenfalls zusätzlicher DGKS/DGKP und Ordinationsassistenzen erfolgt durch die Sozialversicherungsträger bzw. deren Zielsteuerungspartner (Gesundheitsfonds Steiermark) „derart, dass der PVE die anfallenden Personalkosten (Löhne/Gehälter – orientiert an den im Landesdienst üblichen Schemen, inkl. lohnabhängiger Abgaben) ersetzt werden“, so der steirische Vertrag. Verträge gibt es auch für fünf weitere Bundesländer, darunter Wien, Niederösterreich und Salzburg. Dazu kommt die bundesweit gültige Grundvereinbarung.


Grosso modo zufrieden

Unter den Ärztinnen und Ärzten ohne PVE-Erfahrung ist die Skepsis groß (siehe auch Frage des Monats). Dagegen sehen jene, die eine PVE mitbegründet haben und dort arbeiten, praktisch nur Vorteile.

Andrea Braunendal von der PVE Gratwein-Straßengel hat schon einige Erfahrung mit einer PVE: „Wir sind nun seit fünf Jahren ein Primärversorgungszentrum, seit zwei Jahren mit drei Ärzt:innen in der Gesellschaft und einem zweiten Standort. Auf Grundlage dieser Erfahrung sehe ich für mich als Ärztin einige entscheidende Vorteile: Die längeren Öffnungszeiten, das Führungsteam mit drei Ärzt:innen und die Zusatzangebote verbessern einfach die medizinische Betreuung unserer Patient:innen. Die medizinische Teamarbeit bietet auch mir selbst Benefits: Alle Ärzt:innen haben ihre fachlichen Schwerpunkte, auf die man immer zurückgreifen kann. Das gibt auch mir persönlich mehr Sicherheit in der Behandlung. Durch die Größe des gesamten Teams und den guten Zustrom an Patient:innen haben wir ein eigenes PVE-Management, dessen Expertise auf einem Master-Managementstudium beruht. Das bedeutet eine massive Entlastung, ich kann mich im Ordinationsalltag viel besser auf medizinische Fragen konzentrieren“, so Braunendal. „Wo es um größere unternehmerische Entscheidungen geht, gewinnt man im Austausch im Dreierteam ebenfalls an Sicherheit, das richtige zu tun. Was im medizinischen Alltag Freude bereitet, ist zu sehen, wie unterschiedlichste Expertisen von der Sozialarbeit über die Psychotherapie, die Diätologie bis zur Physiotherapie zusammenfinden. Das Fachwissen und das Unterstützungsangebot, dass das Zentrum als Ganzes anbietet, gehen sicher darüber hinaus, was man als Einzelperson bieten kann. Noch ein Vorteil: Durch die Größe des Teams ist das Abwickeln von Urlauben und Krankenständen ebenfalls besser zu managen“, zeigt sich Andrea Braunendal von der PVE überzeugt.

Auch Elisabeth Strobl-Gobiet von Medius in Graz lobt die PVE-Tätigkeit. Es gäbe „ein großes Potenzial für die Versorgungslandschaft, wenn Menschen zusammenarbeiten.“ Ihr Antrieb, eine PVE zu gründen war, „dass sie so gemeinsam im Team die bestmögliche Versorgung für ihre Patient:innen gewährleisten und sich organisatorische Aufgaben aufteilen kann“.

Auch der Liezener Allgemeinmediziner und Bezirksärztevertreter Franz Kotzent freut sich über die Vorteile der neuen Struktur: „Die bessere Betreuung der Patient:innen mit mehr Zeit für Gespräche und Aufklärung hat sich total erfüllt“, sagt er. „Das „Arbeiten im Team mit Zuhilfenahme anderer Fachgruppen und Kolleginnen hat sich ebenfalls erfüllt“, so der Arzt, der zuvor 30 Dienstjahre in seiner eigenen Ordination zugebracht hatte. Dazu käme die wesentliche bessere Versorgung der Patient:innen durch diplomierte Fachkräfte wie Physiotherapeut:innen, Diplomkrankenschwestern(-pfleger oder Diätolog:innen. Für ihn selbst habe die PVE-Gründung gemeinsam mit seinen Kollegen Manfred Altenaichinger (mittlerweile hat dessen Tochter Heidelinde übernommen) und Gerhard Kummer „neue Motivation durch einen Neubeginn“ gebracht. Er habe auch wieder mehr Zeit für sich, indem er viel delegieren könne.

„Das multiprofessionelle Team der PVE ist ein absoluter Gewinn in der umfangreichen Versorgung der Patientinnen und Patienten. Mit der Vielzahl an Angeboten von Prävention bis hin zur abschließenden Behandlung leisten die PVE-Teams einen wesentlichen Beitrag in der Gesundheitsversorgung des Landes“, betont Sabine Gries von der Landarztpraxis Mureck. „Die smarte Alternative zu den überfüllten Spitalsambulanzen lautet: Prävention statt Provokation“, sagt sie.

„Wir erwarten uns von der Arbeit im Primärversorgungszentrum, dass wir als Team eine umfassende und qualitativ hochwertige Versorgung für die Bewohner:innen unseres Stadtteils bieten können. Durch die Zusammenarbeit im erweiterten Team können wir sicherstellen, dass die Bedürfnisse der Patient:innen optimal erfüllt werden und wir gemeinsam mehr erreichen als jede Einzelne für sich“, sind sich Manuela Hochegger, Eva-Maria Tamminen und Verena Brenneis sicher. Die drei Allgemeinmedizinerinnen betreiben gemeinsam mit ihrem Team seit Jänner 2024 ein Primärversorgungszentrum im neuen Grazer Reininghaus-Wohnviertel.


Sicherheit, Ergänzung und Chance

Dietmar Bayer, Kurienobmann Niedergelassene Ärzte und selbst Kassenfacharzt (in Einzelpraxis) für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in Leibnitz, versteht die Kolleg:innen: „Der allgemeinmedizinische PVE-Vertrag und die kinderärztliche PVE-Rahmenvereinbarung schaffen ein hohes Maß an Sicherheit für die interessierten Ärztinnen und Ärzte. Sie wissen, was sie erwartet und sie wissen, dass sie keinesfalls weniger verdienen als in der Einzelpraxis“, hebt er hervor.

Alexander Moussa, Kassenärztlicher Referent in der Ärztekammer Steiermark, betont, dass PVE Teil der extramuralen Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte seien: „Es gibt ausnahmslos aufbauend auf dem bestehenden Stellenplan und danach mit einer Einladung und Auswahlverfahren die Möglichkeit, eine PVE zu etablieren. Dieses Zentrum oder das Netzwerk braucht somit niemand zu fürchten, dass es durch Parallelstrukturen zu Verdrängungswettbewerb im medizinischen Bereich kommt“, zitierte ihn im Vorjahr der ORF. Er selbst führt zwar eine Einzelpraxis, ist aber mit vier weiteren Kolleg:innen eng verbunden.

Ärztekammerpräsident und  Kardiologe Michael Sacherer sieht in den PVE eine zusätzliche starke Chance, „die Kolleginnen und Kollegen in den  Spitalsambulanzen zu entlasten“. Gudrun Zweiker, die eine große Kassenordination in Straden führt, weiß:  „Die Ärztinnen und Ärzte, die eine PVE betreiben, sind sehr zufrieden damit.“ Man sollte PVE als Ergänzung zu Einzelpraxen wertschätzen, lautet Zweikers Credo.

„Die Versorgung der Zukunft muss in der Vielfalt liegen“, kommentierte Gesundheitslandesrat Karl-Heinz Kornhäusl die Mitte Juli im Bundesrat beschlossene Novellierung des PVE-Gesetzes, Wir sind auf einem guten Weg.“ Auch wenn Strukturmaßnahmen im System nötig seien, liege die Versorgungsrate im haus-
ärztlichen Bereich immerhin bei fast 98 Prozent, im fachärztlichen Bereich bei über 97 Prozent. „Wir werden auch weiterhin unsere großartig arbeitenden Haus­ärztinnen und -ärzte in den Ordinationen brauchen.“

Jedes Jahr würden Stellen im allgemeinmedizinischen und fachärztlichen Bereich, die frei werden, neu besetzt.

 

Spezieller Vertrag für Kinder-PVE

Es gibt einen speziellen Gesamtvertrag für Kinder-PVE. Bei einem Pressegespräch sprach der Vorsitzende des steirischen ÖGK-Landesstellenausschusses, Vinzenz Harrer, „von einem bedeutenden Schritt für die kinderärztliche Versorgung in der Steiermark“. Der Präsident der Ärztekammer Steiermark, Michael Sacherer, sagte, er hoffe, „dass durch den Vertrag das Interesse der Fachärztinnen für Kinder- und Jugendheilkunde am Engagement in einer PVE deutlich steigen“ werde. Der Obmann der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, Ärztekammer-Vizepräsident Dietmar Bayer, wies darauf hin, „dass der Vertrag für Kinder-PVE nach dem Vorbild des allgemeinmedizinischen PVE-Vertrages entwickelt wurde, gleichzeitig aber die Besonderheiten der Kindermedizin einfühlsam berücksichtigt“.

Es gibt mehrere Finanzierungswege. Da ist einmal die Grundpauschale pro Ärztin oder Arzt pro Jahr, dazu kommt eine Fallpauschale pro Patientin bzw. Patient und Quartal. Einige Leistungen können zusätzlich verrechnet werden. Der Anteil an der Gesamtfinanzierung liegt dabei klar höher als bei allgemeinen PVE.

Weiters gibt es eine Sachkostenpauschale zur Fi­nanzierung des nichtärztlichen Fachpersonals. Die wird vom Gesundheitsfonds Steiermark und der ÖGK getragen. Dazu kommen weitere Fördertöpfe.

„Alle Beteiligten haben sich darum bemüht, die bestmögliche Versorgung für unsere steirischen Kinder zu sichern“, betonte ÖVP-Gesundheitslandesrat Karlheinz Kornhäusl. Er gehe davon aus, dass bereits mit Oktober die Kinder-PVE-Versorgung beginnen könne. Auch in Graz ist eine Kinder-PVE vorgesehen.

„Politik und Verwaltung, ÖGK, Land und Ärztekammer, ziehen in der Steiermark an einem Strang“, lobte auch Landtagsabgeordneter und SPÖ-Gesundheitssprecher Klaus Zenz „das besondere Klima der Zusammenarbeit für die Gesundheit unserer Kinder“.

Das Einladungsschreiben der ÖGK für die geplante Kinder-PVE in Zeltweg ist bereits online auf der Website der Ärztekammer Steiermark verfügbar.

Grazer Straße 50a1
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