„Die Non-Existenz eines Problems“

Andreas Botzlar, Chirurg und 2. Vorsitzender des Marburger Bundes, referiert am 21. Oktober in Graz über den Ärztemangel. Ein Vorgespräch.

 

AERZTE Steiermark: Sie befassen sich intensiv mit dem Thema Ärztemangel – wie dramatisch ist das Problem tatsächlich?
Botzlar: Gegenwärtig ist der Ärztemangel gerade groß genug, um auch den notwendigen Fortschritt bei Arbeits- und Entgeltbedingung anzuschieben. Der Attraktivitätsverlust des Arztberufs ist zu einem erheblichen Teil auch auf den relativen Überschuss von Ärztinnen und Ärzten in zurückliegenden Jahrzehnten zurückzuführen. Relativ war dieser Überschuss deshalb, weil ein Mehrbedarf an ärztlicher Arbeitskraft eigentlich bereits gegeben war. Zumindest in Deutschland resultierte aber der zunehmende Finanzierungsmangel einerseits in arbeitslosen Ärztinnen und Ärzten, und andererseits in einer gewaltigen Mehrarbeitsbelastung für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die den Beruf tatsächlich ausüben konnten. Damit der Ärztemangel keine Dimension annimmt, welche die medizinische Versorgung der Bevölkerung auf dem von ihr bisher gewohnten Niveau unmöglich macht, muss die bereits begonnene Verbesserung der Rahmenbedingungen für die ärztliche Berufsausübung dringend fortgeführt werden. In jedem Fall bedarf es aber zudem einer Anpassung der Versorgungsstrukturen sowohl an die veränderten Lebensgewohnheiten der Bevölkerung in toto als auch an die veränderte Demographie sowohl der Bevölkerung insgesamt als auch der Berufsgruppe „Arzt“.

Zumindest in Österreich haben wir den Eindruck, dass viele politische Akteure das Thema eher unter dem Tisch halten wollen. Teilen Sie diese Beobachtung? Was ist Ihre Erklärung?
Botzlar: Ein Problem, das es nicht gibt, bedarf auch keiner Lösung. Die Non-Existenz eines Problems aber ist der beste Beweis für die Abwesenheit jeglichen Handlungsbedarfes. Insofern finden Sie die Neigung, Probleme zu negieren, auch in Deutschland und auch in Bezug auf das Gesundheitswesen. Beispielsweise wird insbesondere von den Kostenträgern zur Negierung des Ärztemangels jedes Jahr auf die immer neuen Höchstzahlen berufstätiger Ärztinnen und Ärzte hingewiesen. Außer Acht bleibt hierbei freilich absichtlich, dass die ärztliche Gesamtarbeitsleistung infolge vermehrter Teilzeittätigkeit von Ärztinnen und Ärzten, infolge verringerter dokumentierter und vor allem infolge verringerter undokumentierter Mehrarbeit von Ärztinnen und Ärzten seit Jahren rückläufig ist, während gleichzeitig der medizinische Bedarf mit dem Altern der Bevölkerung und dem medizinischen Fortschritt stetig zunimmt.

Es scheint ja nicht nur einen Ärztemangel zu geben. Die Spitäler kämpfen um den Nachwuchs. Am Land gehen insbesondere die Allgemeinmediziner aus. Kann man beide Probleme überhaupt zeitgleich lösen?
Botzlar: Nach meiner Auffassung kann man den beiden drohenden bzw. bereits eingetretenen Mangelsituationen nur gleichzeitig begegnen. Eine wechselseitige Kannibalisierung der verschiedenen Sektoren eines Gesundheitssystems bezüglich potentiellen Nachwuchses kann nicht zielführend sein. Vielmehr muss die im eigenen Land ausgeübte kurative Medizin wieder attraktiver werden. Dazu wird vor allem ein vermehrtes Eingehen auf die Lebensentwürfe und Berufsausübungsvorstellungen nachwachsender Ärztinnen und Ärzte beitragen.

Eine Strategie ist es, Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland anzulocken. Das scheint ja in Deutschland recht erfolgreich zu funktionieren. Aber es gibt auch eine ethische Komponente. Wer Ärzte importiert, exportiert möglicherweise den Ärztemangel in wirtschaftlich schwächere Staaten. Wie sehen Sie das?
Botzlar: Viele hochentwickelte und wirtschaftlich sehr leistungsfähige Staaten bieten ihrer Bevölkerung ein medizinisches Versorgungsniveau, bei dem rechnerisch betrachtet oft nur wenige hundert Einwohner von einem berufstätigen Arzt respektive einer berufstätigen Ärztin versorgt werden. Dieses Versorgungsniveau in wesentlichem Umfang zu Lasten von wirtschaftlich weniger leistungsfähigen Gesellschaften aufrecht zu erhalten, also Ärztinnen und Ärzte aus anderen Gesundheitssystemen abzuziehen, ist letztlich ethisch nicht vertretbar. Das Problem wird oft dadurch kaschiert, dass der sogenannte brain drain über mehrere Zwischenstationen läuft. Am Ende der Kaskade befindet sich aber in der Regel ein Gesundheitssystem, in dem der Verlust eines einzigen Arztes respektive einer einzigen Ärztin in der Nichtversorgung zehntausender Einwohner resultieren kann.

 

Fotocredit: Marburger Bund

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