Substitutionstherapie – eine medizinische Aufgabe
Die orale Opioid-Substitutionstherapie für Opiodabhängige hat sich während der letzten 25 Jahre auch in Österreich als medizinische Standardmethode etabliert, berichtet Martin Kurz, Leiter des Zentrums für Suchtmedizin am LSF Graz.
Von Martin Kurz
Die gesellschaftspolitischen Hindernisse waren groß, idealistische traditionelle Therapieziele von Abstinenz als einziger Lösungsmöglichkeit und die krankheitsimmanente Nähe der Betroffenen zu strafrechtlich relevanten Handlungen in einer Welt im Krieg gegen Drogen ließen auch die substituierenden ProfessionistInnen verdächtig werden: ÄrztInnen als Dealer, die fahrlässig die Suchterkrankung ihrer PatientInnen prolongieren und ähnliche Klischees werden bei Bedarf auch heute noch bemüht.
Dennoch hat die breite Anwendung dieser Therapieform nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene zu enormen Veränderungen der Drogenproblematik in Bezug auf Opioide geführt: Sekundärkrankheiten und Todesfälle wurden reduziert, Opioidabhängige können ein integriertes Leben führen, epidemiologische Untersuchungen zeigen eine Stagnation der Neuerkrankungen, und die dominierende illegale Marktsituation konnte zerschlagen werden.
Der gesetzliche Rahmen zur Substitutionstherapie besitzt eine in der Medizin einzigartige zusätzliche Regulierung ärztlichen Handelns durch das Suchtmittelgesetz, welches von einem hohen Sicherheitsbedürfnis angetrieben ist und entsprechende Sanktionsdrohungen bei Nichteinhaltung der (aus therapeutischer Sicht teilweise sehr rigiden) Regelungen enthält.
Viele der gesetzlichen Regelungen sind jedoch auch hilfreich, so wird eine seriöse Zusatzausbildung gefordert und die geteilte Verantwortung zwischen BehandlerInnen, Behörde und Apotheken kann auch konstruktiv beim Umgang mit „schwierigen“, besser gesagt, schwer kranken Patientinnen und Patienten genützt werden.
Aus einer unideologischen und pragmatischen Perspektive steht außer Zweifel, dass der Großteil opioidabhängiger Menschen im Querschnitt nicht stabil abstinenzfähig ist. Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich: die Schwere der Abhängigkeit (Opioide besitzen ein enormes Abhängigkeitspotential, da sie auf neurobiologischer Ebene elementare Funktionen der Affektregulierung besitzen), der Krankheitsbeginn in Pubertät und Adoleszenz (und die daraus entstehenden psychosozialen Fehlentwicklungen) und die häufig bereits vorbestehenden zusätzlichen psychischen Probleme (Persönlichkeitsentwicklung, posttraumatische Störungen, Ängste, Depressionen, Psychosen, ADHS). Viele der Betroffenen stammen aus prekären Herkunftssituationen und hatten sowohl dadurch, als auch durch die Kriminalisierung ihrer Lebensform noch keine Chance auf eine Vision bzw. auf ein leitendes Vorbild im Sinne einer bürgerlichen Lebensform.
Die Substitutionstherapie strebt daher primär Ziele an, wie sie die Medizin immer schon bei chronisch Kranken verfolgt hat: Herstellung einer sicheren und begleiteten Versorgungssituation bezüglich der benötigten Substanzen, Behandlung bzw. Verhinderung von Sekundärschäden und die Ermöglichung von dauerhafter ärztlicher und psychosozialer Betreuung ohne hohe Schwellen. Ärztliches Ethos beinhaltet auch immer den Respekt vor individuellen Lebenswelten, sogar wenn sie destruktives Verhalten beinhalten und krankheitsimmanent gestörtes Beziehungsverhalten die klassische ExpertInnenposition immer wieder in Frage stellt (Faktoren, welche im Übrigen auch bei anderen Alters- und Krankheitsgruppen therapeutische und nicht exkludierende Themen darstellen). Erst auf der Basis dieser neu gewonnenen Sicherheit können weitere Schritte in Richtung Re-Integration, psychische Stabilisierung, persönliche Nachreifung und im Einzelfall auch der langfristige Verzicht auf die Substitutionsmedikation gelingen.
Substitutionstherapie muss somit leicht erreichbar, wohnortnah und in einer vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden, in welcher die zahlreichen basalen Anliegen der PatientInnen aus somatischer und sozialer Ebene rasch und sorgfältig beantwortet werden können. Daher spielt die extramurale medizinische Basisversorgung eine wichtige Rolle in der Behandlung dieser Bevölkerungsgruppe. Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin und Psychiatrie, aber auch anderer Fächer, erfüllen alle der oben genannten Kriterien zur kontinuierlichen wohnortnahen Versorgung und sind unverzichtbare PartnerInnen der suchtmedizinischen Schwerpunktambulanzen. Diese haben ihren Schwerpunkt auf der Betreuung von Schwerstkranken oder akuten Krisensituationen, ein großer Teil der Substitutionspatientinnen und -patienten kann ihr Leben jedoch längerfristig in stabiler Substitution ohne weitere somatische und psychosoziale Auffälligkeiten führen.
Leider kam es durch die in den letzten Jahren sehr undifferenziert und katastrophisierend geführte öffentliche Diskussion, die sanktionsfokussierte gesetzliche Rahmenbedingung und die in manchen Bundesländern notorische Verweigerung der Sozialversicherungsträger einer auch finanziellen Anerkennung dieser wichtigen ärztlichen Verpflichtung zu einer starken Abnahme der ärztlichen KollegInnen im Bereich der Basisversorgung. Dadurch konzentrieren sich derzeit sehr viele Patientinnen und Patienten an wenigen Behandlungsorten.
So besteht das gesundheitspolitische Entwicklungsziel darin, wieder möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen, diese Betreuung in ihren Praxen für eine bewältigbare Anzahl von Betroffenen anbieten zu können. Nicht als EinzelkämpferInnen, sondern in Kooperation mit ambulanten und stationären Schwerpunkt¬einrichtungen, die sich als Unterstützer in schwierigen und Krisenfällen definieren.
Glücklicherweise konnten in den letzten Jahren zwei neue Schwerpunkteinrichtungen in Betrieb gehen, die I.K.A. – interdisziplinäre Kontakt- und Anlaufstelle in Graz (Träger ist die Wissenschaftliche Akademie für Vorsorgemedizin) für ca. 250 Patientinnen und Patienten, und die dislozierte suchtmedizinische Ambulanz am LKH Bruck als regionalisierte Struktur für die Obersteiermark. Weiters entwickelten sich zahlreiche konstruktive Vernetzungsmöglichkeiten zwischen BehandlerInnen, Behörde und Apotheken durch periodische Veranstaltungen, Qualitätszirkel und Jours fixes. Aktuell bietet die Ärztekammer in Kooperation mit der Fachabteilung für Gesundheit und Pflegemanagement ein Basismodul Substitutionsbehandlung an (10.5. und 24.5. 2014), um steirischen Kolleginnen und Kollegen zu ermöglichen, sich im Sinne einer regionalen peer-group zu organisieren.
Auf Landesebene wurde die „Checkliste Substitution“ erstellt, welche alle wichtigen Informationen zur Durchführung der Substitutionsbehandlung enthält (www.substituieren.at). Auf Bundesebene erarbeitet derzeit eine ExpertInnenplattform im Auftrag des Bundesministeriums medizinische Leitlinien zur Substitutionsbehandlung nach dem Vorbild der Schweizer und Deutschen Fachgesellschaften.
Alle diese Aktivitäten haben zum Ziel, Substitutionsbehandlung als medizinische und therapeutische Aufgabe besser im Gesundheitssystem zu verankern, allen Beteiligten mehr Sicherheit, Gesundheit und Integration zu ermöglichen, und dadurch vielen jungen Menschen trotz ungünstiger gesundheitlicher Startbedingungen neue Chancen zu eröffnen.
Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit dem Referat für Suchtfragen (Referent Dr. Christoph Ebner) der Ärztekammer Steiermark.
Fotocredit: KAGes/Furgler