Medizin auf schmalem Grat
Reinhard Doppler ist Notfall- und Intensivmediziner aus Leidenschaft und als Notarzt vor allem im Hubschrauber unterwegs. Obwohl er nicht schwindelfrei ist.
U. Jungmeier-Scholz
Sommer in den Rottenmanner Tauern. Am Gipfel des Großen Bösenstein, in fast zweieinhalbtausend Metern Seehöhe bricht eine Frau nach einem Kreislaufstillstand zusammen. Die Bergsteigerinnen und Bergsteiger, die zur selben Zeit am Gipfel sind, setzen sofort einen Notruf ab und beginnen mit der Laienreanimation. Zwanzig Minuten später schwebt der Notarzthubschrauber Christophorus 14 mit Notarzt Reinhard Doppler über dem Gipfel. Schon das Aussteigen wird zum Balanceakt und ist nur angestützt über die Kufe möglich. Doppler übernimmt die Wiederbelebung, die glücklicherweise positiv ausgeht, obwohl unter schwierigsten Umständen erfolgt. „Der Platz auf dem Gipfel reicht nicht einmal, um einen Menschen richtig hinzulegen“, erzählt der passionierte Notarzt und Intensivmediziner. Trotzdem konnte ein Leben gerettet werden.
In Grenzsituationen wie diesen ist Reinhard Doppler in seinem Element. Medizin übt er am liebsten in ihrer intensivsten Form aus, wo der Grat zwischen Leben und Tod besonders schmal ist. Bei Notfällen, aber auch in der Intensivstation des LKH Hochsteiermark, Standort Bruck, seinem tagtäglichen Arbeitsort.
Kein anderer Beruf vorstellbar
Dabei wollte der Sohn zweier Ärzte – der Vater war Gynäkologe, die Mutter Anästhesistin – beruflich ganz andere Wege gehen. Bei der schulischen Berufsberatung vor der Matura stellte er sich in der Reihe der potenziellen Jus- und BWL-Studierenden an. Was er da so an Gesprächsfetzen aufschnappte, „viel Mathematik“, „trockenes Studium, erst im Berufsleben wird es spannend“, ließ ihn spontan die Warteschlange wechseln. „Da war ich emotional total falsch.“ Also doch Medizin, wie er den Eltern gleich nach dem Heimkommen mitteilte. „Sie haben sich gefreut über meine Entscheidung – aber sie haben mir immer freie Hand gelassen und weder zugeredet noch abgeraten“, betont er. Heute noch steht er voll und ganz hinter der damaligen Entscheidung. „Ich kann mir für mich keinen anderen Beruf vorstellen.“ Beruf und Berufung sind bei Doppler kongruent. „Wenn man mich fragt, ob ich lieber ins Kino gehe oder auf die Intensivstation, um Menschen zu behandeln, wähle ich das Zweite.“
Das bedeutet nicht, dass jeder Moment im Beruf gleich beglückend ist. Im Angehörigengespräch Hoffnungen zu zerstören, wie es auf einer Intensivstation nun einmal dazugehört, bleibt eine schwierige Aufgabe. „Aber diese Gespräche sind wichtig und Teil meiner Arbeit. Letztlich können sogar sie befriedigend verlaufen, wenn es mir gelingt, die Sachlage verständlich zu erklären, Einsicht zu erwirken und so den Angehörigen die Situation etwas erträglicher zu machen.“
Wissen immer erweitern
Wie wohl alle Kollegen kennt auch Doppler vereinzelt Berufserfahrungen, die nicht zufriedenstellend verlaufen und die langes Nachdenken, ja sogar Schuldgefühle, nach sich ziehen. Eine Fehlentscheidung trägt für ihn jedoch immer den Keim zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung in sich.
So verdankt er seine ersten medizinischen Erfahrungen einem Schlüsselerlebnis als Jugendlicher. Als auf einer Party ein Mädchen bewusstlos zusammengebrochen war, stellte er – als Laie, wohlgemerkt – spontan eine Fehldiagnose. Irrtum kann Doppler an sich selbst jedoch nur schwer akzeptieren. Und so ging er mit 17 zur Rettung, um die entdeckte Wissenslücke zu schließen. Seine Tätigkeit beim Roten Kreuz begann mit den Grundlagen: Dem Erste-Hilfe-Kurs und dem Sanitätshilfekurs. Als Student wurde er dann Mitglied des Medizinercorps, einer „weltweit einzigartigen Notarztschmiede“, wie Doppler das steirische Spezifikum charakterisiert. Auch in der klinischen Intensivmedizin versucht er stets, Wissenslücken zu schließen. Bereits als fertiger Intensivmediziner absolvierte er Zusatzausbildungen in Geriatrie und Nephrologie. Denn oft, so Doppler, überschneide sich die Intensivmedizin mit der Geriatrie und aufgrund der großen Dialysestation im Haus sei auch in diesem Bereich immer Spezialwissen gefragt. Ihn interessiert alles, was die Intensivbehandlung betrifft – hier up to date zu bleiben erfordert ohnehin permanente Weiterbildung.
Er vertraut dem Seil
Trotzdem bleibt mindestens zweimal monatlich Zeit, um am Stützpunkt Niederöblarn – jenem mit den meisten Seilbergungen Österreichs – als Notarzt Dienst zu tun. „Hubschraubereinsätze sind meistens schwieriger als bodengebundene – und diese Art von Herausforderung reizt mich“, erklärt Doppler. Wer jetzt meint, Doppler sei bewundernswert schwindelfrei, der irrt. „Wenn ich mich im fünften Stock über ein Geländer hinunterbeuge und runterschaue, fühle ich mich total unwohl dabei“, gesteht er. „Aber es ist etwas ganz Anderes, wenn man vom Boden per Seil hochgezogen wird – man muss nur dem Seil vertrauen.“ Das tut er – denn oft verbringt er den gesamten Flug am Seil. Was für ihn das Schönste am Fliegen ist? „Das Fliegen!“ Überhaupt, wo sich der Hubschrauber viel flexibler bewegen kann als andere Fluggeräte … Eigene Pilotenlizenz habe er „leider keine“. Dafür seien die zeitlichen Ressourcen zu begrenzt.
Der Einsatzort Niederöblarn ist für Doppler aufgrund der gebirgigen Umgebung ein besonders interessanter Stützpunkt. Trotzdem reicht sein notärztlicher Horizont noch viel weiter: Als einer der beiden Koordinatoren des Drei-Säulen-Modells für das steirische Notarztwesen fungiert Doppler als Beauftragter der Krankenanstalten, um den Bedarf zu erheben und Löcher im Dienstplan zu vermeiden.
„Verletzlicher geworden“
Ein derartiges Leben lässt sich leichter mit jemandem teilen, der etwas vom Fach versteht, der die Leidenschaft für den Beruf nachempfinden kann und Verständnis für die Art der Belastung aufbringt. Dopplers Frau Astrid ist ausgebildete Anästhesistin, bis vor kurzem auch mit Christophorus 14 im Einsatz und derzeit in Karenz. Daniel und David, beide zehn Monate alt, haben jedoch nicht nur das Leben ihrer Mutter umgekrempelt. Auch für den Vater hat sich etwas geändert: „Ich bin ausreichend Profi, um einen nahen Angehörigen voll medizinisch zu behandeln, da bin ich mir sicher. Und trotzdem hat sich für mich seit der Geburt meiner Söhne etwas geändert: Schwierige Einsätze fühlen sich plötzlich anders an. Obwohl ich mir das nie gedacht hätte: Ich bin verletzlicher geworden.“
Damit erweitert sich das Spektrum seiner Eigenschaften in eine neue, ungewohnte Richtung. Denn die Charakterzüge, die er laut Eigendefinition sowohl beim Einsatz am Gipfel als auch in der klinischen Spitzenmedizin auf der Intensivstation benötigt, sind komplett anderer Natur: „Wer diesen Job macht, muss rasch Entscheidungen treffen können, dabei aber alle Eventualitäten einberechnen.“ Denn jeder Patient und jede Patientin muss am Boden ausreichend versorgt werden, damit er oder sie während des Flugs stabil bleibt. Zwischenlandungen und damit eine Nachversorgung sind meist nicht möglich.
Auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen schafft nur, wer wie Doppler die Herausforderung liebt und gerne genau auf diesem schmalen Grat als Arzt tätig ist.
„Wer diesen Job macht, muss rasch Entscheidungen treffen können …“
Reinhard Doppler
Fotocredit: Doppler