Wir und die Anderen
„Primärversorgung“ ist nach „Primärversorgungszentrum“ das „Wort des Jahres 2016“ im österreichischen Gesundheitssystem. Reagieren die einen allergisch auf dieses Wort, können andere ihr Entzücken darüber kaum verbergen, dass sich nach einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf „Primary Health Care“ (wie Primärversorgung international bezeichnet wird) nun auch in Österreich in der Aufwachphase befindet.
Stefan Korsatko
Wachgeküsst wurde die Primärversorgung durch die Gesundheitsreform 2013. Primary Health Care soll flächendeckend umgesetzt werden und die richtige Leistung soll am „Best Point of Service“ erbracht werden. Dies bedeutet zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, mit der optimalen medizinischen und pflegerischen Qualität sowie gesamtwirtschaftlich möglichst kostengünstig.
Viele Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner in Österreich sehen sich schon immer in dieser Rolle und können die „Neuwertigkeit“ dieses Prozesses nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz wurde Österreich im Jahr 2011 in einer europäischen Studie gemeinsam mit Ungarn, Griechenland, Irland, Island und der Türkei zu den Ländern mit einem „schwachen“ Primärversorgungssystem gereiht (1) (siehe Grafik).
Nun könnte man verleitet sein, diesem Befund die positiven Seiten des österreichischen Systems entgegenzuhalten, von welchem hierzulande von vielen Seiten gerne und oft behaupten wird, es wäre das „beste Gesundheitssystem der Welt“. Blickt man jedoch auf die verfügbaren Publikationen, zeigt sich, dass starke Primärversorgungssysteme unter anderem mit einem besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung, einer geringeren Rate unnötiger Hospitalisierungen und höheren Gesundheitschancen der Bevölkerung assoziiert sind.(2)
Österreichs Schwächen
Als Schwächen wurden in Österreich unter anderem die Wahrnehmung der Primärversorgung durch die Politik und Handlungsverantwortliche, die fehlende zentrale Koordinierungsfunktion für Patientinnen und Patienten, die Ausbildung auf allen Ebenen, die Anzahl der Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner im Vergleich zu den Fachärztinnen und Fachärzten und nicht zuletzt die relativ unattraktive Honorierung aufgezeigt.
Was verbirgt sich nun eigentlich hinter dem Begriff „Primary Health Care“? Dazu gibt es inzwischen unzählige Publikationen. Für diese Artikelserie verwenden wir die in Alma Ata 1978 entwickelte Definition.(3) Gemäß dieser ist „Primary Health Care“ ein essentieller und zentraler Bestandteil jedes Gesundheitssystems. Es ist die erste Versorgungsebene, mit der Einzelpersonen, Familien und die Gemeinschaft in Kontakt mit dem Gesundheitssystem treten und stellt somit das erste Element eines kontinuierlichen Versorgungsprozesses dar. Sie umfasst gesundheitsfördernde, präventive, kurative, pflegerische, rehabilitative und palliative Maßnahmen und bringt eine multiprofessionelle und integrative Versorgung so nahe wie möglich an den Wohnort und Arbeitsplatz der Menschen. Sie fördert die Partizipation, Selbstbestimmung und Entwicklung von personellen und sozialen Fähigkeiten und ist ein gesundheitsorientiertes und intersektorales Versorgungskonzept.
48 Jahre nach der Definition von Alma Ata, in der Primärversorgung als zentrales Element jedes Gesundheitssystems deklariert wurde, haben sich bekanntermaßen nun auch erstmalig in der Geschichte Österreichs Bund, Land und Sozialversicherung vertraglich gebunden, den Worten auch Taten folgen zu lassen und „Multiprofessionelle und interdisziplinäre Primärversorgung zu konzipieren und in der Folge Primärversorgungsmodelle umzusetzen“.(4)
Wir wollen mit dieser Artikelserie einen Blick zur Umsetzung von „Primary Health Care“ in ausgewählte europäische Länder werfen. Ziel ist eine möglichst gute Beschreibung der Systeme mittels Gegenüberstellung von öffentlich zugänglichen Zahlen, Daten und Fakten. Es geht nicht darum, ob die Primärversorgung in einem Land besser oder schlechter ist als in Österreich, sondern darum mit diesen Beispielen zu einem besseren Verständnis von „Primary Health Care“ beizutragen und die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dieses Versorgungskonzept in unterschiedlichen Ländern gelebt wird. Der Fokus wird auf der medizinischen Versorgung und den Ärztinnen und Ärzten liegen und wo es möglich ist, werden wir auch andere Gesundheitsberufe integrieren.
Drei Ländergruppen
Den Auftakt in der nächsten Ausgabe machen die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden, darauf folgen unsere Nachbarländer Deutschland, Schweiz und Slowenien und den Abschluss machen England, Niederlande und Portugal.
Um die Lesbarkeit und Verständlichkeit zu gewährleisten, werden alle Länderbeschreibungen gleich strukturiert. Einem ersten Teil mit Eckdaten der Länder (Einwohnerzahl, Ausgaben für das Gesundheitssystem, kurze Beschreibung des Gesundheitssystems etc.) folgt ein zweiter Teil mit dem Schwerpunkt auf ausgewählten Gesundheitsindikatoren anhand aktuellster Publikationen und Daten (5,6) (z. B. Lebenserwartung, Krankenhaushäufigkeit etc.), welche zum Teil den österreichischen Zahlen gegenübergestellt werden, um einen direkten Vergleich zu ermöglichen.
Im dritten Teil folgt eine strukturierte Darstellung der Primärversorgung (7, 8), wobei besonderes Augenmerk auf folgende Aspekte gelegt wird: Wie ist sie organisiert und finanziert, wer sind die wesentlichen Akteure, wie gestalten sich die Versorgungspfade und nach welchen Regeln erfolgt die Inanspruchnahme. Womöglich möchten wir auch detailliertere Einblicke in die Ausbildung von Gesundheitsberufen, deren akademische Verankerung und wissenschaftlichen Output (Publikationen), die Erfassung der Versorgungsqualität, aber auch die Rolle von Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmedizinern, Fachärztinnen und Fachärzten und anderen Gesundheitsberufen in der Primärversorgung bieten. Falls verfügbar, wollen wir diese strukturierte Beschreibung mit einem Erfahrungsbericht einer/eines Gesundheitsberufs aus einem der oben angeführten Länder abschließen.
Mit der Serie wollen wir in die teils emotional geführte Debatte über die zukünftige Ausrichtung der Primärversorgung in Österreich möglichst valide Informationen einstreuen, denn wie wir gerade merken, machen Veränderungen auch vor Versorgungssystemen nicht Halt. Je informierter wir diesen Veränderungen gegenüberstehen, desto weniger fühlen wir uns bedroht und sind fähig, diese aktiv und konstruktiv mitzugestalten.
Stefan Korsatko, Allgemeinmediziner, ist Medizinischer Leiter des Clinical Research Centers an der Medizinischen Universität Graz und 1. Bundessprecher des 2016 gegründeten Österreichischen Forum Primärversorgung (OEFOP). Unterstützt wird er bei der Recherche durch das OEFOP-Team, welches auch die Peer Reviews durchführt.
Quellen:
(1) Kringos D. 2012, The strength of primary care in Europe; p145-164; http://www.nivel.nl/sites/default/files/bestanden/Proefschrift-Dionne-Kringos-The-strength-of-primary-care.pdf
(2) Kringos D. 2012, The strength of primary care in Europe. Utrecht, the Netherlands: NIVEL; 2012:152; Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3809427/
(3) WHO. Erklärung von Alma-Ata. 1978. Online: www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0017/132218/e93944G.pdf (02.12.2016)
(4) Bundes-Zielsteuerungsvertrag. Zielsteuerung-Gesundheit. 2013. Online: www.hauptverband.at/mediaDB/986167_B-ZV_26062013_Letztfassung_Unterschrieben.pdf (02.12.2016)
(5) OECD Health at a Glance 2016. State of Health in the EU Cycle. Online: www.oecd.org/health/health-at-a-glance-europe-23056088.htm (02.12.2016)
(6) European Commission. DG Health & Consumers. Public Health. ECHI Data Tool. Online: http://ec.europa.eu/health/dyna/echi/datatool (02.12.2016)
(7) European Observatory on Health Systems. Health System Reviews (HIT series). Online: www.euro.who.int/en/about-us/partners/observatory/publications/health-system-reviews-hits (02.12.2016)
(8) QUAICOPC (Quality and Costs of Primary Care in Europe) Studie. Online: www.nivel.nl/en/qualicopc
Grafik: Conclusio