Blasinstrument als Medizin
Evidenzbasierte Medizin gilt oft als starr und realitätsfern. Das muss sie aber nicht sein, wenn es nach Paul Glasziou geht.
Martin Novak
Sein Referat über nicht-medikamentöse Therapien beginnt Paul Glasziou , Allgemeinmediziner und australischer Professor für Evidenzbasierte Medizin mit britischem Migrationshintergrund, gerne mit einer Anekdote. Einem Langzeitraucher mit obstruktiver Erkrankung der Atemwege, der Medikamente ablehnt und stattdessen eine Empfehlung für „Atemübungen“ wollte, verordnete Glasziou 3x täglich Didgeridoo-Spiel (wir sind in Australien, in der Steiermark wäre es wahrscheinlich Posaune oder Jagdhorn gewesen).
85 Prozent landen im Müll
Mit der Didgeridoo-Anekdote hatte Glasziou auch die Lacher als Keynote-Speaker bei der 19. Jahrestagung des Deutschen Netzwerkes für Evidenzbasierte Medizin, die im März an der Meduni Graz stattfand, auf seiner Seite. Die kleine Geschichte zur Einleitung des Vortrags „Nicht-medikamentöse Therapien und verschwendete Forschungsarbeit“ hat einen ernsten Hintergrund: Es gibt eine Reihe von Studien, die den positiven Einfluss des Blasinstrumenten-Spiels bei chronischen Atemwegserkrankungen belegen, unter anderem vom Leiter der Ambulanz für interstitielle und seltene Lungenerkrankungen der Thoraxklinik des Universitätsklinikums Heidelberg, Prof. Michael Kreuter .
Dass hochrangige Forscher valide Arbeiten zur Wirkung nicht-medikamentöser Therapien veröffentlichen, ist aber eher die Ausnahme: „Viele wurden entwickelt und getestet, die meisten davon werden schlecht beschrieben und kaum angewendet“, lautet das Urteil von Glasziou und er spricht von verschwendeter Forschungsarbeit, weil mehr als 85 Prozent der Ergebnisse wegen des schlechten Studiendesigns, Nichtveröffentlichung und schlechter Berichterstattung keinen Eingang ins allgemeine Bewusstsein und die Behandlungspraxis finden.
Honig gegen Husten
Um trotz der nicht sehr befriedigenden Forschungslage den Zugang zu gesicherten nicht-medikamentösen Therapien zu erleichtern, hat Glasziou mit einer Kollegin und einem Kollegen „ HANDI“ entwickelt – ein interaktives Handbuch, mit dessen Hilfe nicht-medikamentöse Therapien leichter zu finden und anzuwenden sein sollen. In der Eigenwerbung klingt das so: “The handiest one stop reference for the practical use of evidence-based non-pharmacological treatments.” In dem englischsprachigen „Handbuch“, das eigentlich eine Online-Plattform (www.racgp.org.au/handi) ist, sind mittlerweile an die 80 sehr konkrete Therapievorschläge in sechs Gruppen aufgelistet. Sowohl die wissenschaftliche Stichhaltigkeit als auch die praktische Anwendbarkeit sind knapp dargestellt. Reduziert die Mittelmeerdiät tatsächlich das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen? Ist ein Fitness-Training nach einem Schlaganfall hilfreich? Welche Übungen sind bei chronischen Rückenschmerzen zu empfehlen? Welche Präventionsmaßnahmen sollen unter welchen Umständen bei einer Eier-Allergie von Kindern angewendet werden? Hilft Honig hustenden Kindern? Auf diese und viele andere Fragen hat das Handbuch Antworten. Indikation, Kontraindikationen, konkrete Handlungsanleitungen und Verfügbarkeit der jeweiligen Anwendung fehlen ebenso wenig wie die Auflistung der Studien, aus denen das Handbuch seine konkreten Informationen bezogen hat.
Ungewissheit ist normal
Der Apologet der Anwendung nicht-medikamentöser Therapien und evidenzbasierter Medizin plädiert auch gegen die absolute Perfektion und für die „Ungewissheit“. Dass er damit weder Ärztinnen und Ärzten noch Patientinnen und Patienten nur Freude macht, weiß er. Ärzte lieben Gewissheit und Patienten lieben Versprechen, diese Ausgangslage lässt sich mit offenen Fragen nicht so leicht in Einklang bringen. In einem Text für das British Medical Journal-Blog aus dem Jahr 2015 verlangt Paul Glasziou aber genau das: Die „traditionellen“ Schritte der EbM sind die vier ‚A‘ – Ask, Acquire, Appraise und Apply. Ohne den Schritt Null, nämlich „das Erkennen unserer Ungewissheiten“, könnten die anderen Schritte aber nicht gesetzt werden.
Glasziou räumt auch mit übertriebenen Erwartungen auf und formuliert dafür fünf Punkte:
- Dramatische Effekte von Behandlungen sind selten.
- Ungewissheiten zu den Effekten von Behandlungen sind sehr üblich.
- Kleine Unterschiede in den Effekten verschiedener Behandlungen sind üblich und es ist wichtig, diese zuverlässig zu erkennen.
- Wenn die Antwort zu einer wichtigen Ungewissheit zu den Effekten einer Behandlung bekannt ist, müssen Schritte unternommen werden, um die Ungewissheit zu reduzieren.
- Es könnte viel mehr getan werden, den Patienten zu helfen, zur Reduktion der Ungewissheiten über die Effekte von Behandlungen beizutragen.
Speziell der letzte Punkt, so Glaszious Kritik, wird auch in der evidenzbasierten Medizin zu wenig beachtet – die Rolle der Patientinnen und Patienten. „Evidenzbasierte Medizin ist die Zusammenführung bester Forschungsevidenz mit klinischer Erfahrung und Patientenwerten”, so seine Definition. So bekommt dann ein Patient, der partout keine Medikamente einnehmen möchte, das Spielen eines Blasinstruments verordnet.
Fotos: Martin Wiesner, Fotolia, Glasziou