„E-Health heißt Kooperation“

VAEB-Generaldirektor Kurt Völkl ist davon überzeugt, dass kein Weg um die Telemedizin herumführt. Er sieht aber auch die Notwendigkeit, sie medizinisch und wirtschaftlich in den Praxisalltag zu integrieren und fordert eine umfassende gesellschaftspolitische Diskussion.

Martin Novak

Wie erklären Sie einer Ärztin oder einem Arzt in kurzen Worten, was Sie unter E-Health verstehen?

Kurt Völkl: Ich tue mir da leicht, weil die VAEB seit knapp zehn Jahren E-Health in Form von Telemonitoring bei Diabetes und Bluthochdruck betreibt. Wir haben sehr früh mit der Österreichischen Ärztekammer vertraglich vereinbart, dass die VAEB E-Health für ihre Versicherten einführt. Wir haben begonnen, die Versicherten mit den entsprechenden Geräten auszustatten. Die messen Zucker, Gewicht, Blutdruck, das allgemeine Wohlbefinden selber und melden das dem Arzt. Der kontrolliert und meldet zurück: passt, passt nicht, geht gut, geht nicht gut, komm in meine Ordination oder mach weiter so. Bevor ich auf eine theoretische Ebene komme, würde ich mit jedem Arzt unser praxiserprobtes E-Health-Telemonitoring-Projekt durchbesprechen und sagen, das ist ganz einfach. Und es ist mit relativ hohem Nutzen für alle Stakeholder verbunden.

US-Studien besagen, dass die Ablehnung von Ärztinnen und Ärzten gegenüber neuen IT-Tools daher rührt, dass sie ihnen Zeit für die Patientinnen und Patienten wegnimmt, ohne Vorteile zu bringen. Der Arzt und Publizist Atul Gawande hat darüber einen langen Essay im US-Magazin „New Yorker“ geschrieben. Titel: „ Why doctors hate their computers “. Wie gehen Sie mit derartigen Argumenten um?

Völkl : Das war auch der Grund, warum wir in unserer Modellregion Bruck-Mürzzuschlag begonnen haben, mit den Ärzten intensiv zu kooperieren. Wir wollten darüber nachdenken, ob Telemedizin einen medizinischen Nutzen, einen ökonomischen Vorteil hat, wie wir sie finanzieren und welche Qualitätsstandards wir brauchen. Unser Ziel war ja ein relevanter Mehrwert für alle Stakeholder. Dann sind wir draufgekommen, dass zwar jeder das Projekt begrüßt hat, es aber nicht so richtig ins Fliegen kam. Da gibt es mehrere Arbeitshypothesen: Erstens die zeitliche Komponente, die Sie jetzt ansprechen. Die Ordinationen sind ja bisher schon voll, der Arzt ist voll ausgelastet. Dann haben wir in den Arztpraxen eine unklare Rollenverteilung: Darf nur der Arzt Telemedizin machen oder auch seine Assistentin bzw. die Krankenschwester? Das, was für mich in diesem Bereich am meisten zählt, ist, dass es keine Einbindung in den Ordinationslauf gibt. Die Ärzte haben immer gesagt: sensationelles Projekt. Sie haben es aber als Sonderprojekt behandelt und am Tagesrand angehängt. Der Arzt hat zuerst seinen normalen Arbeitsablauf fertiggemacht und dann hat er Telemedizin gemacht. Das funktioniert so nicht. Ein gutbekannter Arzt hat mich einmal am Freitag um 22 Uhr angerufen und gesagt: „Jetzt mache ich deine Telemedizin.“ Solange es nicht integrierter Bestandteil eines Ordinationsgefüges ist, wird es nicht hinhauen.

Da sind wir jetzt bei der Ordination 4.0 …

Völkl : Genau, alles heißt jetzt 4.0 – Arbeit, Bildung, Industrie. Wenn man vorne mit dabei sein will, muss man hinten 4.0 anhängen. Wir müssen systematisch ein Geschäftsmodell erarbeiten, in dem Telemedizin eine integrale Rolle im Ordinationsablauf spielt. Das Schwierige ist nur, das einzuarbeiten, wenn am Beginn noch wenig Telemedizin da ist. Wenn die Politik großräumig auf Telemedizin setzt, ist es leichter, ein Geschäftsmodell zu verwirklichen als jetzt zu Beginn. Die Frage ist: Erweitere ich das Geschäftsmodell anbieterseitig oder mache ich es nachfrageseitig? Das ist das Schwierige, aber daran arbeiten wir. Gawande hat nicht ganz unrecht: Das Problem bei der Digitalisierung ist ja nicht so sehr, dass sich Menschen nicht mit dem Neuen beschäftigen, das Problem ist das Verlernen des Alten. Wer verlernt schon gerne etwas, das er eingeübt hat? Wenn aber neue Technologien mit alten Mustern zusammentreffen, entsteht ein Gegensatz, der Ärger schafft. Wir sind gerade dabei, diesen Ärger aus der Welt zu schaffen.

Stichwort Geschäftsmodell: Da sprechen wir von verrechenbaren Leistungen. Die gibt es praktisch noch nicht.

Völkl : Wir halten die Ärzte schadlos. Das, was sie für die traditionelle Behandlung bekommen haben, bekommen sie auch, wenn Telemedizin bzw. Telemonitoring als Leistung ansteht. Wir haben auch noch keine Idee, wie man das in ein neues Geschäftsmodell rechnerisch einbringt, aber im Moment helfen wir uns drüber, indem wir die Ärzte schadlos halten. Das war Grund genug für die Österreichische Ärztekammer, dabei mitzumachen.

E-Tools funktionieren rund um die Uhr. Der Mensch kann um 2 Uhr in der Früh bei Amazon einkaufen …

Völkl : Er kann auch um 2 Uhr in der Früh seinen Blutdruck messen, aber der Arzt schaut ihn sich erst um 6 Uhr in der Früh an …

… das ist der Punkt. Erwartet sich der Patient nicht, dass ihm der Arzt schon um 2:20 Uhr antwortet?

Völkl : Das glaube ich weniger. Es kann natürlich eine überzogene Erwartungshaltung sein. Aber wenn sich der Patient am nächsten Tag ins Wartezimmer setzt, weil er Probleme mit seinem Blutdruck hat, wird es viel später. Das ‚E‘ vorne sagt zeit- und ortsunabhängig. Den Antwortrhythmus – zum Beispiel innerhalb zwölf Stunden – muss man gemeinsam festlegen.

Oft hat man den Eindruck, dass IT-Projekte von praxisfernen Planern den Praktikerinnen und Praktikern übergestülpt werden. Erst wenn die sich wehren, kommt es zu Anpassungen an die Praxis. Warum kommt es nicht früher zur Einbindung der Anwender?

Völkl : Uns sind auch jede Menge Fehleinschätzungen passiert. Wir haben mit dem Messen von Diabetes-Werten begonnen. Unser Zugang war, jeder Diabetiker bekommt ein Gerät und wird ein Leben lang Telemonitoring machen. Dann haben wir festgestellt, dass nach einer gewissen Zeit die Akzeptanz und das Engagement der Patienten nachgelassen haben. Es ist ja völlig klar: Wenn Sie gut eingestellt sind, und Sie bekommen immer die gleiche Kurve und der Arzt schreibt dann plötzlich nicht mehr zurück, weil er nur ‚passt‘ schreiben könnte, macht das keinen Sinn. Man muss auch in Richtung Geschäftsmodell nachdenken, wie lange jemand Telemonitoring-Patient bleibt. Dann sollte man vielleicht drei Jahre später prüfen, ob es immer noch so ist. Wir haben im Feldversuch viel gelernt.

Wenn Ärztinnen und Ärzte gegen konkrete IT-Projekte sind, werden ihnen meist auch finanzielle Motive vorgeworfen. Tatsächlich ist aber E-Health ein Riesengeschäft für die beteiligten Unternehmen. Verstehen Sie, wenn jemand Ihnen vorwirft, eher deren Interessen zu vertreten?

Völkl : Ich sehe es genau umgekehrt. Ich arbeite im Interesse der Versicherten. Ich nehme den Versicherten unter idealtypischen Verhältnissen den Weg zum Arzt ab. Sie können mit dem Arzt in einen Dialog treten, ohne in die Praxis zu gehen. Ich sehe eher den relevanten Nutzen beim Patienten, aber auch beim Arzt, der das Wartezimmer nicht so voll hat. Ich glaube, dieses „big business“ ist bei weitem nicht so „big“, dass man uns vorwerfen könnte, wir seien Lobbyisten für diese digitalen Firmen.

Es ist digitaler Darwinismus, wenn die Gesellschaft und Technik schon weiter sind als die Organisation. Jeder hat Gesundheits-Apps auf seinem Smartphone und beherrscht jeden Handgriff. Auch das Alter ist kein Problem mehr. Ältere Patienten können mit ihrem Smartphone gut umgehen. Ich glaube, dass die Gesellschaft – und die Technik jedenfalls – schon weiter sind als die Organisationen. Wenn wir daran denken, dass rote Blutkörperchen irgendwann durch Nanobots ersetzt und Organe im 3-D-Drucker produziert werden, und wir sind noch nicht einmal bei E-Health in der Praxis durch, dann ist das ein Missverhältnis.

Fällt Ihnen ein im Sinne der Ärztinnen und Ärzte, aber auch der Patientinnen und Patienten besonders missglücktes IT-Projekt ein?

Völkl : Die Frage ist immer, wann lernt man aus den Erfahrungen, die man bei einem Projekt gewonnen hat. Wie schnell sagt einem die Selbstreflexion, dass es anders besser wäre? Ich glaube, dass die Entwicklungsschritte, die alle machen, notwendig sind, um in die richtige Spur zu kommen. Mir fällt nichts ein, wo ich sagen würde, es ist ganz schlecht gelaufen. Wenn allgemein behauptet wird, etwas sei schlecht gelaufen, haben die Leute nur zu wenig miteinander geredet.

Welche schweren Fehler kann man wirklich machen?

Völkl : Der schwerste Fehler ist, jemanden auszuschließen. E-Health heißt Kooperation. Ohne breite Kooperation wird es nicht gehen. Vielfalt, Veränderung und Kooperation sind heute angesagt. Die drei Begriffe beherrschen die gesellschaftspolitische Entwicklung. Manchmal vergisst man Menschen und Organisationen einzubinden. Das muss man dann nachholen. Alle einzubinden, mag am Anfang mühsam sein, aber es lohnt sich letztendlich.

Gibt es ein Projekt, das Sie nach diesen Kriterien für besonders gelungen halten?

Völkl : Ich glaube, dass wir bei unserem Projekt in der Modellregion Mürztal alle einbezogen haben, die einbezogen sein sollten. Ich denke, dass wir bei diesem Modellversuch auch sehr viel lernen und sehr viel Gutes bewirken.

Sie haben vom Nutzen für Ihre Versicherten gesprochen, was ist der Nutzen für Sie als Versicherung?

Völkl : Ein zufriedener Patient ist natürlich immer im Interesse der Sozialversicherung. Ich denke, dass kein Weg um E-Health herumführen wird. Die frühere Erkennung von Krankheiten, der dauernde Dialog zwischen Arzt und Patient bringt wesentliche Verbesserungen.

Gibt es ganz explizit auch wirtschaftliche Vorteile?

Völkl : Im Moment ist es noch zu kurz, um das sagen zu können – wir haben rund 700 bis 800 Menschen im telemedizinischen Prozess. Es interessiert mich im Moment auch noch nicht. Das ist eher mittel- bis langfristig der Fall. Sie können alles modellrechnen, da gibt es ja viele kluge wissenschaftliche Arbeiten, die das prognostizieren. Und ich denke, die werden Recht bekommen.

Verstehen Sie, warum wir in manchen Belangen ungemein genau auf den Datenschutz schauen, während er uns in anderen Bereichen fast gleichgültig ist?

Völkl : Ich glaube, dass die Annäherung an den Datenschutz nach dem Motto stattfindet, wenn es mir passt, schreie ich: ͵Haltet den Dieb!ʹ, wenn es mir nicht passt, finde ich Argumente, warum er keine Rolle spielt. Man muss darauf achten, dass man ein ausgewogenes Verhältnis zum Datenschutz findet. Das ist noch nicht sehr ausbalanciert.

Ein Blick in die Zukunft ist immer schwierig. Aber wie wird in einer überschaubaren Zukunft unsere medizinische IT-Welt ausschauen?

Völkl : Ich habe immer das Gefühl, dass alle glauben, die Digitalisierung sei eine aufziehende Sturmfront, die wieder abzieht. Sie ist aber eine komplexe Veränderung, die bleiben wird. Es geht um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen – in den Worten des Taxifahrers: „Wo soll es hingehen?“ Das ist eine Haltungs- und Einstellungssache. Das ist eine Einstellung zu Lebens-, Arbeits- und Gestaltungsformen. Wie wollen wir unser Leben gestalten. Die Digitalisierung macht keine Gefangenen. Die Digitalisierung ist das Leben, das vor uns liegt. Ich gehe davon aus, dass alle Möglichkeiten der Digitalisierung über kurz oder lang Eingang in unsere Gesellschaft und damit auch unsere Gesundheitsversorgung finden werden. Da wird es keinen Weg daran vorbei geben.

Um welche Fragen geht es noch?

Völkl : Für mich gibt es noch den philosophisch-ethischen Aspekt: Habe ich als normaler Staatsbürger das Recht auf Ineffizienz? Kann ich sagen, ich will meinen Doktor haben und keine Gesundheitsplattform? Kann ich mein Handy abschalten? Das sind die gesellschaftspolitischen Fragen der Zukunft.

Und was sind Ihre Antworten?

Völkl : Die Würde des Menschen ist unantastbar und jeder hat für sich zu entscheiden, wie er zu leben hat. Bei einer Diskussion ging es jüngst um telemedizinische Operationstechniken, bei denen quasi ein Computer operiert. Die Frage dort: Habe ich ein Recht darauf, dass mich ein Computer operiert? Ich will von einem Computer operiert werden, der zittert nicht. Die Frage stellt sich aus jeder Richtung: Kann ich die E-Technologie verweigern und poche auf mein Recht auf Ineffizienz oder kann ich E-Health fordern? Das werden noch spannende gesellschaftspolitische Fragen. Die Politik muss diese Diskussion aktiv mitgestalten.

Es gibt Zukunftsforscher, die sagen, das Recht, von einem Menschen betreut oder behandelt zu werden, wird irgendwann ein Privileg sein.

Völkl : Sind wir die letzten homines sapientes vor der künstlichen Intelligenz? Werden wir zu gentechnisch veränderten Cyborgs? Kann man sich als Mensch dagegen wehren, oder ist man automatisch Mitläufer in einer Entwicklung, von der noch keiner weiß, wo sie hinführt?

 

Zur Person: Dipl.-Ing. Prof. Kurt Völkl ist gebürtiger Eisenerzer. An der TU Graz hat er das Mathematik-Studium abgeschlossen. Seit 1992 ist er Generaldirektor der Versicherungsanstalt des Österreichischen Bergbaus und seit dem Zusammenschluss im Jahr 2005 Generaldirektor der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau. Er ist Professor am Zentrum für Entrepreneurship und angewandte BWL der Universität Graz, weiters Beiratsmitglied der ÖGTelemed für „Public Health Systems“.

Die VAEB hat rund 225.000 Versicherte und mitversicherte Angehörige sowie rund 7.000 Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin bzw. Fachärztinnen und Fachärzte als Vertragspartner, davon 955 in der Steiermark (Jahresbericht 2017).

 

Ohne öffentliches Gesundheitssystem?

Veriley, die Medizin-Firma des Google-Konzerns Alphabet, ist nur einer der großen Tech-Player am Gesundheitsmarkt. Apple, Amazon, IBM und viele andere Technologieunternehmen haben diesen Markt längst für sich entdeckt. Das öffentliche Gesundheitswesen ist da weit schlechter vorbereitet. Das ist zumindest das Ergebnis einer Studie des internationalen Beratungsunternehmens Deloitte für den deutschen Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV).

„Durch Technologieplayer und Start-ups ergeben sich innovative und für Patienten attraktive Versorgungsoptionen zunehmend außerhalb des Gesundheitssystems“, zitiert das Handelsblatt aus der Studie. Das heißt zusammengefasst: Es stellt sich nicht die Frage, ob die Digitalisierung in der Medizin Einzug hält, sondern nur die, ob die bekannten Player des öffentlichen Gesundheitswesens oder private Unternehmen das Feld beherrschen werden. Laut Deloitte-Studie haben die Privaten die besseren Karten.

 

AERZTE Steiermark 04/2019

Fotos: Symbol

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