„Vertrauen in die Ärzte stärken“
Der Entscheidungsanalytiker Robert Böhm hat gemeinsam mit einem Team anderer Wissenschafterinnen und Wissenschafter untersucht, was Menschen vom Impfen abhält. Die Gründe sind mannigfaltig.
Ist eine Impfpflicht ein geeignetes Mittel, um Impfquoten zu erhöhen?
Robert Böhm : Die Einführung einer Impfpflicht erscheint für einige Personen als adäquate Maßnahme, um in Zeiten zunehmender Impfskepsis den individuellen und gesellschaftlichen Schutz gegen gefährliche Infektionskrankheiten sicherzustellen. Allerdings zeigen unsere Forschungsarbeiten auch mögliche Gefahren einer solchen Maßnahme: Wenn beispielsweise eine partielle Impfpflicht für ausgewählte Impfstoffe eingeführt werden würde, könnte dies insbesondere bei Personen, die dem Impfen kritisch gegenüberstehen, zu Verärgerung führen. Die verlorene Entscheidungsfreiheit bei verpflichtenden Impfungen könnte deshalb zu einer verringerten Impfbereitschaft bei freiwilligen Impfungen führen.
Impfkritische Personen holen sich ihre Freiheit also quasi wieder zurück, sofern sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet. Unsere Forschung zeigt ebenso, dass die Verärgerung über Impfnebenwirkungen nach einer verpflichtenden Impfung stärker als nach einer freiwilligen Impfung sein könnte, selbst wenn die Impfnebenwirkungen nur sehr schwach sind.
Solche möglichen Sekundäreffekte einer Impfpflicht können das Vertrauen in das Gesundheitssystem gefährden, mit unvorhersehbaren Folgen. Hinzu kommen ethische und rechtliche Probleme bei der Einführung einer Impfpflicht. Unsere Forschung zeigt, dass die Impfbereitschaft durch die Verfügbarkeit evidenzbasierter und auch für Laien verständlicher Informationen verbessert werden kann, auch ohne eine Impfpflicht. Außerdem sollten Barrieren abgebaut werden, um das Impfen „leichter“ zu machen. In Deutschland und anderen Ländern wird zum Beispiel darüber diskutiert, ob Impfungen nicht grundsätzlich auch in der Apotheke durchführbar wären.
Bei der Masern-Mumps-Röteln-(MMR-)Impfung zum Beispiel gibt es einen deutlichen Abfall von der ersten zur zweiten Teilimpfung. In Hamburg waren es laut letzten Daten 17 Prozent. Warum passiert das?
Böhm : Eine Auslassung der zweiten Teilimpfung kann durch drei Faktoren hervorgerufen werden. Zum einen könnten sich die Eltern aufgrund negativer Erfahrungen bei der ersten Teilimpfung bewusst gegen die zweite Teilimpfung entscheiden. Ein anderer Grund ist, dass die Notwendigkeit der zweiten Teilimpfung für einen effektiven Schutz unterschätzt wird. Ein dritter Grund ist, dass die zweite Teilimpfung einfach vergessen wird. In den letzten beiden Fällen ist die Auslassung der zweiten MMR-Teilimpfung also keine richtige Entscheidung gegen die Impfung, sondern die Argumente, die für die Impfung sprechen, sind nicht stark genug, um die Hürden auf dem Weg zur Impfung zu überwinden.
Welche Gruppen von Nicht-Impfenden gibt es? Es sind ja nicht alle hartnäckige Impfgegner.
Böhm : Hartnäckige Impfgegner gibt es tatsächlich sehr wenige. Allerdings gibt es eine viel größere Gruppe von Personen, die zumindest eine gewisse Skepsis gegenüber dem Impfen haben und aktiv nach entsprechenden Informationen suchen, um ihre Entscheidung gut abzuwägen. Solche Personen können dann durch Falschinformationen fehlgeleitet werden. Außerdem gibt es immer mehr Menschen, die den Sinn von Impfungen nicht mehr richtig nachvollziehen können, weil die Bedrohung von Infektionskrankheiten als geringer wahrgenommen wird als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das liegt vor allem am Erfolg der Impfungen. Die wenigsten von uns haben jemals die schrecklichen Auswirkungen einiger Infektionskrankheiten gesehen. Das Problembewusstsein ist bei einigen Personen also zu gering ausgeprägt.
Wie soll eine Gesellschaft mit diesen „Hardcore“-Impfgegnern umgehen, die ja immer wieder starke mediale Aufmerksamkeit bekommen?
Böhm : Hartnäckige Impfgegner sind kaum noch für Argumente empfänglich. Unsere Bemühungen sollten sich eher den anderen Personen widmen, die potenziell durch Impfgegner in ihrer Entscheidung negativ beeinflusst werden. Es gilt also den Einfluss, den Impfgegner auf Personen haben, die dem Impfen gegenüber kritisch oder unsicher eingestellt sind, zu reduzieren. Es ist ein Kampf der Informationen und Falschinformationen, der inzwischen im Internet geführt wird und den wir annehmen müssen. Einige Social Media Plattformen werden hier nun auch bereits selbst aktiv und löschen offensichtliche Falschinformationen. Natürlich sollte man immer kritisch überprüfen, wann und unter welchen Bedingungen eine solche Zensur gerechtfertigt ist.
Gratisimpfaktionen und ausgereifte Erinnerungssysteme haben Erfolg. Aber offenbar gelingt die geforderte Impfquote von 95 Prozent damit nicht. Was ist zusätzlich notwendig?
Böhm : Wir müssen die Maßnahmen auf die Gründe ausgelassener Impfungen zuschneiden. Erinnerungssysteme helfen, um Barrieren zum Impfen zu reduzieren. Für Personen, die sich hinsichtlich des Nutzens von Impfungen unsicher sind, müssen jedoch Informationen gut und verständlich aufbereitet werden.
Eine wichtige Frage ist auch, wer die Informationen vermittelt. Der Interessenkonflikt von Pharmaunternehmen macht diese zu denkbar schlechten Informationsvermittlern. Das Vertrauen in den Arzt oder die Ärztin und die Institution, die Impfempfehlungen ausspricht, muss verstärkt werden. Eine andere Alternative wäre es, wenn Eltern von anderen Eltern beraten werden. Hier ist das Vertrauen meistens hoch. Letztendlich geht es also darum, die vielen Argumente, die für Impfungen sprechen, durch eine vertrauensvolle Quelle verständlich zu kommunizieren und Falschinformationen zu entkräften.
Es gibt bei den Impfquoten auch deutliche regionale Unterschiede – aktuell bei der zweiten MMR-Teilimpfung mehr als 80 Prozent in Hamburg und Schleswig-Holstein und nur rund 68 Prozent in Baden-Württemberg. Wie lassen sich solche Differenzen erklären?
Böhm : Regionale Unterschiede in Impfraten können in unterschiedlichen Einstellungen und Risikowahrnehmungen begründet sein, die zum Beispiel zwischen Personen mit verschiedenen sozioökonomischen oder demographischen Hintergründen variieren. Da die Gründe für ausgelassene Impfungen allerdings vielfältig sein können, ist es enorm wichtig, diese zunächst zu quantifizieren. Unsere Arbeitsgruppe hat deshalb einen Fragebogen entwickelt, der die verschiedenen Gründe für oder gegen das Impfen erfasst. In aktuellen und zukünftigen Studien wollen wir damit die psychologischen Effekte ermitteln, die unterschiedlichen Impfraten zu Grunde liegen. Erst nachdem die Ursachen identifiziert wurden, können geeignete Interventionen zur Erhöhung der Impfraten ausgewählt werden.
Es gibt den individuellen und den gesellschaftlichen Nutzen der Impfung. Stimmt in der Informationspolitik die Gewichtung zwischen den beiden Themen?
Böhm : Der individuelle Nutzen ist oftmals das zentrale Argument für eine Impfung. Allerdings zeigt unsere Forschung, dass es nicht das einzige Argument sein sollte.
Der Gemeinschaftsschutz, der vor allem für Personen wichtig ist, die sich nicht selbst impfen lassen können (z. B. sehr kleine Babys), ist ein wichtiges zusätzliches Argument. Die Impfbereitschaft steigt, wenn der soziale Nutzen durch den Gemeinschaftsschutz zusätzlich zum individuellen Nutzen kommuniziert wird.
Unsere Forschung legt also nahe, dass beide Informationen – sowohl der individuelle als auch der soziale Nutzen von Impfungen – in verständlicher Art und Weise bereitgestellt werden sollten.
Masernausbrüche wie 2015 in Deutschland oder jetzt aktuell in Österreich führen zu heftigen öffentlichen Debatten über zusätzliche Maßnahmen. Führen diese Debatten zu nachhaltigen Aktivitäten oder verpuffen sie eher wieder?
Böhm : Ich habe das Gefühl, dass man sich inzwischen bewusst ist, dass nicht die Impfgegner das Hauptproblem sind, sondern dass sich das Gesundheitssystem „bewegen“ muss. Es gibt vereinte Aktivitäten von verschiedenen Seiten, um nachhaltig hohe Impfraten zu erzielen, auch ohne Impfpflicht.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen bereit ist, sich gegen gefährliche Infektionskrankheiten durch entsprechende Impfungen zu schützen, sofern ihnen der Nutzen von Impfungen richtig erklärt und das Impfen leicht gemacht wird.
Dr. Robert Böhm ist Psychologe und hat seit 2013 die Juniorprofessur für Decision Analysis an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der RWTH Aachen inne.
„Müdigkeit“ kein passender Begriff
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von Impfmüdigkeit (Vaccine Hesitancy),
um unzureichende Impfquoten zu erklären. Ein Team von Forscherinnen und Forschern der Universitäten Erfurt und Aachen sind den Ursachen in Deutschland auf den Grund gegangen. Sie fordern, nicht von „Impfmüdigkeit“, sondern schlicht von den Determinanten des (Nicht-)Impfens zu sprechen, weil sich das Verabsäumen von Impfungen nicht nur durch „Hesitancy“ (Unschlüssigkeit), also ein psychologisches Zögern, erklären lässt.
5 C entscheiden demnach über das Impfen: Confidence (Vertrauen) in die Sicherheit von Impfungen, Complacency (Wahrnehmung des Krankheitsrisikos), Constraints oder Convenience (Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand), Calculation (Nutzen-Risiko-Abwägung) sowie Collective Responsibility (Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft).
Fazit der Studie : „Impfverhalten hängt von vielen Faktoren ab und Daten zeigen, dass nicht nur das Vertrauen in Impfungen ein wichtiger Aspekt ist, sondern dass auch in Deutschland praktische Barrieren abgebaut werden müssen.“ Gleichzeitig sollten die psychologischen Gründe des (Nicht-)Impfens weiterhin regelmäßig erfasst und die Daten zur Veränderung politischer Rahmenbedingungen sowie für die Entwicklung zielgruppenspezifischer Kampagnen genutzt werden.
Was die Forscherinnen und Forscher (Cornelia Betsch, Philipp Schmid, Lars Korn, Lisa Steinmeyer, Dorothee Heinemeier, Sarah Eitze, Nora Katharina Küpke, Robert Böhm) damit wollen: die Entwicklung langfristig evidenzbasierter Strategien.
Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse sollten in die Gestaltung dieser Interventionen einbezogen werden, um effektive Ansätze zu identifizieren, eine eigenständige Impfentscheidung im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft zu unterstützen.
AERZTE Steiermark 04/2019
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