„Wir müssten gar nicht mehr schlafen gehen“

Die Endokrinologie-Professorin Barbara Obermayer-Pietsch betreibt ihre (Forschungs-)Arbeit mit Passion. Zu ihrer medizinischen Expertise bringt sie eine zusätzliche Perspektive ein: jene der Philosophie. Denn ursprünglich hatte sie sich schon an der Sorbonne Philosophie studieren, und in kühnen Träumen auch lehren, gesehen.

Ursula Scholz

„Auch in der Medizin gibt es ein breites philosophisches Feld – allein die zentralen Fragestellungen um Leben und Tod …“ Die beiden großen Interessensgebiete von Barbara Obermayer-Pietsch – Medizin und Philosophie – lassen sich aus ihrer Sicht durchaus harmonisch vereinen.

Als sie im Jahr 1981 nach der Matura vor der Entscheidung für ein Studienfach stand, fiel ihr die Wahl schwer. Zu viele Interessen hätte sie gerne auf universitärem Niveau weiterverfolgt. Ein Jahr lang hatte sie sich bereits am Institut Français auf die Aufnahmeprüfung an der Pariser Universität Sorbonne vorbereitet, wo sie Philosophie inskribieren wollte, inspiriert durch die französischen Existenzialisten der 1960er wie Maurice Merleau-Ponty . Frankreich galt ihr als „gelobtes Land“, weil von klein auf häufiges Reiseziel der Juristenfamilie Pietsch und aus Sicht einer interessierten Teenagerin ein innovativerer Boden als das damalige Österreich. „Schon meine Eltern und Großeltern haben freundschaftliche Beziehungen zu Französinnen und Franzosen unterhalten. Unsere Eltern haben meine Schwester und mich als Europäerinnen erzogen.“ Als der Vater erkrankte, gab sie ihre Reisepläne auf und beschloss, aus familiären Gründen doch in der Heimatstadt Graz zu studieren.

Spontan kombiniert

Am Inskriptionsschalter landete sie in einer Gruppe wagemutiger und abenteuerlustiger junger Menschen, die sich zusammenrottete und spontan beschloss, Medizin zu studieren. „B 201“ lautete das entsprechende Studienkürzel damals, und Barbara Pietsch trug den Code in ihr Formular ein. Nicht, ohne daneben auch noch Philosophie zu inskribieren. Aus der damals beliebig zusammengewürfelten Gruppe entwickelten sich teils bis heute sorgsam gepflegte Freundschaften. Eine Konstellation, wie sie in Zeiten normierter Aufnahmeprüfungen kaum denkbar ist, aus der jedoch renommierte Ärztinnen und Ärzte wie Wolfgang Schöll oder Klaus Greistorfer u.v.a. hervorgegangen sind.

Kurz vor Studienabschluss hat Obermayer-Pietsch die Philosophie dann doch der Medizin geopfert. „Ich war in der Vorlesung von Professor Georg Leb, als dieser mögliche Dissertationsthemen vorgeschlagen hat. Damals war es zwar absolut ungewöhnlich, eine Dissertation in Medizin zu schreiben, aber ich war sofort begeistert.“ Mit dem Beginn der wissenschaftlichen Karriere endete die Möglichkeit, zwei Studien nebeneinander zu betreiben, und die endgültige Entscheidung war getroffen. Gleichzeitig begann eine Laufbahn als Forscherin, die nun in Leitungsfunktionen an der Grazer Med Uni, nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften (DGO,ÖGES,ESE, ECTS), einer großen Forschungsgruppe und zahlreichen Research Awards gipfelt.

Glühende Europäerin

Die europäische Seite von Obermayer-Pietsch liegt dennoch keineswegs brach und kein französisches Wort ist vergessen: „Ich bin in vielen internationalen Boards tätig und reise daher oft nach Brüssel.“ Gerade in den frankophonen Ländern, wo immer noch Vorbehalte gegenüber dem Englischen bestehen, punktet sie mit ihren exzellenten Französischkenntnissen. Erleichtert wird ihr internationales Engagement auch durch ihr Organisationstalent. Mehrere Kongresse hat sie bereits auf die Beine gestellt, inklusive Charity Run am Salzburger Mirabellgarten. Der nächste Kongress , der auf ihrer Agenda steht, wird jener für Endokrinologie und Stoffwechsel im kommenden April in Graz sein. Mit Jahresbeginn hat sie auch die Präsidentschaft der Plattform für Personalisierte Medizin übernommen, deren Vizepräsidentin sie zuvor gewesen war. Auch hier ist ein Jahreskongress auszurichten; und all das neben der laufenden Forschungsarbeit und einer regelmäßigen klinischen Beschäftigung. Und neben geplanten endokrinologischen Fortbildungskursen u. a. in Tiflis oder Lissabon, denn auch der ärztliche und wissenschaftliche Nachwuchs liegt Obermayer-Pietsch sehr am Herzen. Generell – nicht nur im Speziellen die Ausbildung ihrer Töchter, die ebenfalls an ihren Unis aktiv sind.

Man möchte meinen, daneben bliebe keine Zeit mehr für philosophische Gedanken. Aber kann man philosophische Betrachtungen überhaupt abschalten, wenn man einmal seine Sinne dafür geschärft hat? Wohl nicht. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meiner Forschungsgruppe meinen jedenfalls, man merke mir die philosophische Herangehensweise schon an.“ Auch daheim mit ihrem Partner, dem Transplantationschirurgen Helmut Müller , führt sie tagtäglich Gespräche, insbesondere über Grenzfälle in der Medizin. Darüber, was ethisch vertretbar ist – und warum (nicht).

Mutig fragen

In ihrem Team – und sie spricht nahezu ausschließlich in Wir-Form, wenn sie über ihre Forschungsarbeit berichtet – widmet sie sich dem „großen Ganzen“, etwa der spannenden Stellung der Endokrinologie in der Evolutionsbiologie, ebenso wie dem einzelnen Individuum und den persönlichen Antworten auf hormonelle Besonderheiten. Eine spezielle Expertise hat sie für androgene und osteologische Fragen entwickelt, aber Hormone faszinieren sie ganz grundsätzlich. „Es gibt tausende Hormone, das allein ist schon supercool. Wir müssten gar nicht mehr schlafen gehen, soviel Interessantes gäbe es zu erforschen!“, erklärt sie voll Enthusiasmus. Man müsse nur stets mutig genug sein in der Fragestellung, so ihre Überzeugung. Denn auch ein Hormon sei nicht einfach ein Hormon. Es geht um die Interaktion in einem Organismus – viele Hormone sind auch Neurotransmitter und es gibt durchaus Hormone „von außen“, z. B. Phytohormone, die über Inkretine und das Darm-Mikrobiom wirken und noch kaum erforscht sind.

Die vergangenen beiden Forschungsjahre hat sie als besonders spannend erlebt – unter anderem im Team mit Thomas Pieber, Harald Sourij und Frank Madeo, dem mittlerweile international bekannten „Urvater“ des intermittierenden Fastens. Danach gefragt, ob sie ihr Essverhalten auch dementsprechend angepasst habe, antwortet sie lachend: „Nein, dazu koche ich zu gerne.“ Auch das, wie nicht anders zu erwarten, oft französisch inspiriert.

„Bilanziere täglich“

In die Karten schauen lässt sich Barbara Obermayer-Pietsch nicht, wenn es um ihre philosophischen Betrachtungen geht. „Wir bewegen uns gerne in Grenzbereichen“, lautet ihre Andeutung, wieder das gesamte Forschungsteam umfassend. Persönliche Jahresbilanzen zieht sie nicht unbedingt zu Silvester. „Ich bilanziere täglich, ob es für mich in Ordnung ist, was ich mache. An Festen oder Geburtstagen vielleicht sogar mehr als zum Jahreswechsel.“ Obwohl auch der in ihrem Leben zu einer Zäsur wurde, als sie in einer Silvesternacht zum ersten Mal Mutter geworden ist. „Darum ist der 1. Jänner für die ganze Familie ein wichtiges Datum.“ Als weitere Zeitpunkte, die sich für Bilanzen anbieten, sieht sie Erfahrungen von Erkrankung und Gesundung. Sie selbst hat einige vital bedrohliche Krankheiten überstanden, die ihr einen „vertieften Zugang zu Fragen um Leben und Tod“ beschert haben. Oder, wie sie den Einfluss philosophischer Betrachtungen auch umschreibt, „die Art, wie man die Umwelt verdaut, beeinflusst“. Womit selbst bei einem urphilosophischen Thema die Stoffwechsel-Expertin aus ihr spricht.

AERZTE Steiermark 01/2020


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