Angst adé?
Mehrere Studien zeigen: Die Bereitschaft zur (noch hypothetischen) COVID-19-Impfung sinkt Monat für Monat, der Widerstand gegen Sicherheits- und Hygienemaßnahmen steigt im Gegenzug. Wir haben mit dem Leiter des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg gesprochen und ihn nach Ursachen und möglichen Gegenmaßnahmen befragt. Sein Institut koordiniert repräsentative Befragungen zu dem Thema in sieben europäischen Ländern.
Martin Novak
AERZTE Steiermark: Ihr Institut hat die Impfbereitschaft gegen COVID-19 in sieben europäischen Ländern untersucht. Können Sie etwas über die Art der Studie erzählen?
Jonas Schreyögg: Seit April untersucht das Hamburg Center for Health Economics in Kooperation mit Universitäten in Portugal, Italien und den Niederlanden gesellschaftlich und politisch relevante Themengebiete im Abstand von rund zwei Monaten, um die Veränderungen im hochdynamischen Verlauf zu erfassen. Insgesamt umfasst jede Befragung rund 150 Einzelfragen. Befragt wurden jeweils mehr als 7.000 Menschen in Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Portugal und dem Vereinigten Königreich. Sie repräsentieren die Bevölkerung des Landes in Bezug auf Region, Geschlecht, Alter und Bildung.
Es gab zwei Untersuchungswellen. Im April waren 74 Prozent bereit, sich gegen das neuartige Coronavirus impfen zu lassen, im Juni waren es nur mehr 68 Prozent, also um 6 Prozentpunkte weniger. Im Gegenzug stieg die Zahl jener, die sich nicht impfen lassen wollen. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Schreyögg: Wir erklären uns den Rückgang der Impfbereitschaft, den wir übrigens in allen beteiligten Ländern sehen, durch die zunehmend kritische Diskussion um Impfstoffe. Die Demos der letzten Monate von Impfgegnern haben die Bürger zusätzlich verunsichert. Wenn man bedenkt, dass ein Teil der Bevölkerung aufgrund von Vorerkrankungen nicht geimpft werden kann und die Effektivität der Impfung sicherlich nicht bei allen Bevölkerungsteilen 100 % betragen wird, wird eine Herdenimmunität durch die Einführung eines Impfstoffes nicht zu erreichen sein.
Es gibt in der April-Umfrage auffällige Unterschiede zwischen den Ländern. Sehen Sie hier eine Gesetzmäßigkeit? Hat die Umfrage im Juni diese Unterschiede bestätigt?
Schreyögg: Ja, es ist bekannt, dass die Bevölkerung Frankreichs und Deutschlands auch aus historischen Gründen Impfungen skeptischer gegenübersteht als andere Länder. Man muss allerdings sagen, dass es auch in diesen beiden Ländern nur einen geringen Anteil an überzeugten Impfgegnern gibt. Ein deutlich größerer Anteil unter den derzeit nicht Impfbereiten hat Sicherheitsbedenken, die man durch Transparenz und gute Aufklärungskampagnen noch ausräumen könnte.
Was auch auffällt, ist der Gendergap: Männer sind impfbereiter als Frauen. Das Phänomen kennen wir auch von anderen Untersuchungen. Sind Männer vernünftiger, ängstlicher …? Was ist eine wahrscheinliche Erklärung?
Schreyögg: Wir wissen, dass Männer risikobereiter sind. Derzeit wird ein Impfstoff von vielen als Risiko gesehen. Mit diesem Risiko können Männer besser umgehen als Frauen.
Welche Rolle spielt das Alter der Befragten?
Schreyögg: Es ist auffällig, dass die Impfbereitschaft ab 55 zunimmt. Sie ist insgesamt bei älteren Menschen höher als bei Jüngeren.
Befürchten Sie, dass die Impfbereitschaft weiter sinken wird? Wie kann man gegensteuern?
Schreyögg: Derzeit ist keine Trendumkehr in Sicht. Nur durch massive Aufklärungskampagnen und viel Transparenz wird man das Vertrauen in die Impfstoffe erhöhen können.
Obwohl es die Impfung noch gar nicht gibt, fürchten viele Nebenwirkungen. Auch hier dominieren die Frauen. Wird diese Angst geringer werden, wenn es einen gut untersuchten Impfstoff gibt?
Schreyögg: Das grundsätzliche Problem ist, dass man die Nebenwirkungen bei vielen anderen Impfstoffen über Jahre beobachten konnte. Das wird hier nicht möglich sein. Deshalb muss man hier sequenziell vorgehen und nach positiv erfolgten klinischen Studien und der Marktzulassung erstmal Risikogruppen impfen. So wird man weitere Erkenntnisse durch die Massenanwendung sammeln und kann dann Stück für Stück die Impfung auf weitere Bevölkerungsteile ausweiten.
Die Impfbereitschaft ist für unterschiedliche Impfungen sehr verschieden. Die Masern-Impfung findet zum Beispiel weit mehr Zustimmung als die Influenza-Impfung. Wodurch sind diese Unterschiede erklärbar?
Schreyögg: Bei der Masernimpfung stehen Kinder im Vordergrund. Daher ist dies auch eine emotionale Frage. Kinder möchte man auf jeden Fall schützen. Bei der Influenza-Impfung spielt wiederum eine Rolle, dass diese insbesondere für Ältere empfohlen wird und sich viele Jüngere nicht als Risikogruppe sehen. Zudem können einige Ältere aufgrund von Vorerkrankungen nicht geimpft werden.
Sind noch weitere Befragungswellen geplant?
Schreyögg: Ja, die letzte gab es im August, danach folgt die nächste im Oktober.
Fotos: Schlaeger, AdobeStock
„Lügner“ und „Ignoranten“
Impfgegner gibt es genauso lange wie das Impfen.
Impfgegner sind kein neues Phänomen. Bereits der Entdecker der Pockenimpfung, der britische Arzt Edward Jenner, war davon betroffen. Rund 50 Jahre nach seiner bahnbrechenden Innovation musste Mitte des 19. Jahrhunderts ein Denkmal für den Mediziner vom prominenten Trafalgar Square in den weniger auffälligen Kensington Park verbracht werden, um die „Anti-Vaxxers“ zu besänftigen. Anfang des 20. Jahrhunderts tat sich die US-amerikanische Aktivistin und „Naturheilerin“ Lora C. Little als Gegnerin der Pockenimpfung hervor. In ihrer Zeitung „Liberator“ hetzte sie gegen das Impfen und behauptete, dass dadurch unter anderem Syphilis verursacht würde. 500 Ärzte, die sich in einem offenen Brief in der New York Times für das Impfen aussprachen, wurden als Lügner und Ignoranten diffamiert.
Dennoch setzte sich die Impfung durch: 2019 konnte die WHO den 40. Jahrestag der Ausrottung der Pocken begehen.
AERZTE Steiermark 09/2020
Foto: Library of Congress