AERZTE Steiermark 03/2022

 

… ein schulärztlicher Blick

Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Schüler*innengesundheit

Kinder und Jugendliche haben seit Beginn der Pandemie durch Lockdowns und Schulschließungen den Wegfall eines prägenden Teiles ihrer Lebenswelt und der Strukturierung ihres Alltags erfahren. Zudem haben Covid-Maßnahmen auch die Freizeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen verändert: Neben sozialen Einschränkungen konnten Schüler*innen ihren gewohnten Freizeitaktivitäten beispielsweise in Sport- und Musikvereinen nur mehr eingeschränkt oder gar nicht mehr nachgehen. Umso mehr kommt der Aufrechterhaltung des Schulbetriebes in Präsenz eine wichtige Bedeutung zu, um für Kinder und Jugendliche „ein Stück Normalität” zu ermöglichen.


Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Schüler*innen

Über Ergebnisse einer Studie der Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien (mit rund 3000 befragten Schüler*innen ab 14 Jahren) berichtet Irene Brickner im Standard (2021): Mehr als die Hälfte der befragten Schüler*innen geben an, unter einer depressiven Symptomatik zu leiden, die Hälfte gab an unter Ängsten zu leiden und ein Viertel der befragten Schüler*innen litt unter Schlafstörungen. 16 Prozent der Befragten gab gar das Vorhandensein von suizidalen Gedanken an. In den vergangenen Monaten der Pandemie sind neben Schulpsycholog*innen auch zunehmend Schulärzt*innen mit suizidalen Krisen von Schüler*innen konfrontiert. Schulärzt*innen sind oftmals vor Schulpsycholog*innen vor Ort, führen Entlastungsgespräche und leiten betroffene Schüler*innen und ihre Familien gezielt an weiterführende professionelle Unterstützungs- und Behandlungsangebote weiter.

Das allgegenwärtige Thema Corona mit seinen Auswirkungen auf die tägliche Lebensgestaltung von Kindern und Jugendlichen kann auch ein Gefühl von Ausgeliefertsein erzeugen. Je nach sozialen und psychischen Ressourcen der Familien kann sich dies unterschiedlich auswirken. Karl Vavrik, Neuropädiater, Sozialpädiater und Psychotherapeut in einem Gespräch mit Heinz Wagner im Kurier erklärt, wie Kinder und Jugendliche in der aktuellen Situation unterstützt werden können. Es kann sich positiv auf Kinder und Jugendliche auswirken und zu einer geringeren Verunsicherung führen, wenn sie in einem guten sozialen Netz eingebettet sind, sich auch sonst im eigenen Leben weitgehend sicher fühlen und Antworten auf ihre Fragen bekommen und sich mit den eigenen Sorgen und Nöten aufgehoben fühlen können (vgl. Wagner 2020). Dass sich sozioökonomische Verhältnisse auf Gesundheit auswirken, ist seit längerem bekannt. Richard Wilkinson & Richard Marmot (2004) haben ausführlich die Zusammenhänge von sozioökonomischem Status und Krankheit analysiert und wiederholt auf diese hingewiesen.

Besonders stark betroffen scheinen Kinder und Jugendliche aus sozial schwächer gestellten Familien. Aktuell sind laut Daten der EU-SILC 2020 knapp 22 Prozent der unter 18-Jährigen in Österreich armutsgefährdet (vgl. Allinger & Lichtenberger 2021, S. 5).


Zunahme an Gewalt …

Auch häusliche Gewalt im Rahmen der Corona-Pandemie muss als Problem in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Auch wenn Gewalt an Frauen und Kindern in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommt, konnte in einer aktuellen Studie von Janina Steinert und Cara Ebert (2021) gezeigt werden, dass es Risikofaktoren für Frauen und Kinder gibt, während eines Lockdowns Opfer von Gewalt zu werden. Das Risiko ist dann besonders erhöht, wenn Heimquarantäne vorliegt, finanzielle Sorgen (z. B. aufgrund von Kurzarbeit) bzw. der Verlust des Arbeitsplatzes eines der Elternteile den Alltag beeinträchtigen oder eine Partnerin/ein Partner oder beider Partner*innen an psychischen Erkrankungen leiden. Haushalte, in denen kleine Kinder (unter 10 Jahren) leben, sind ebenfalls überproportional von Fällen häuslicher Gewalt betroffen. Eine wesentliche Empfehlung der Studie von Steinert und Ebert ist die Verbesserung der Bewerbung einschlägiger Hilfsangebote in der Öffentlichkeit, da viele befragte Frauen angaben, nicht zu wissen, wo sie Hilfe erhalten könnten.

Auch für Kinder und Jugendliche ist es wesentlich, über Hilfs- und Unterstützungs­angebote Bescheid zu wissen. Für Kinder und Jugendliche können Lehrer*innen (bzw. pädagogisches Personal in Kindergärten etc.) oder Trainer*innen in Vereinen (Sportvereine, Chöre etc.) Vertrauenspersonen darstellen. Auch Akteur*innen des schulischen Supportsystems können wichtige Ansprechpersonen sein.


Schulärztliche Expertise: Wertvolles medizinisches Wissen im Setting Schule

Besonders wertvoll erweist sich im Kontext der Covid-19- Pandemie das weite Spektrum schulärztlicher Unterstützungsmöglichkeiten. Schulärzt*innen stellen zeitnah fachgerechte Information und Entlastung für die Schulgemeinschaft zur Verfügung. Sie sind mit den örtlichen Begebenheiten vertraut sowie den Schüler*innen und Lehrpersonen bekannt. Auch für besorgte Eltern und Schulleitungen fungieren Schulärzt*innen immer wieder als unverzichtbare Berater*innen in gesundheitlichen und pandemiebezogenen Fragestellungen. Beispielhaft angeführt sei die Ausarbeitung und Umsetzung von Hygienekonzepten an den Schulen, Erstellung von Informationsmaterial für Eltern und Schüler*innen, Impfberatungen oder die Begleitung von Schüler*innen nach einer Covid-19-Erkrankung. Auch beim Contact Tracing in den Schulen sowie dem Austausch mit den Gesundheitsbehörden sind Schulärzt*innen involviert.

Viele Schulärzt*innen stellen ihre Expertise auch über ihre Dienstzeiten hinausgehend zur Verfügung. Insbesondere während des ersten Lockdowns standen Kolleg*innen telefonisch ihren Schulleitungen beratend zur Seite.

Im Laufe der Covid-19-Pandemie wurden und werden an die Schulen immer wieder neue Aufgaben aus dem Gesundheitsbereich gestellt. Um die Covid-spezifischen Vorgaben von Ministerium und Bildungsdirektion möglichst praxistauglich und in gebotener Eile umsetzbar zu machen, war und ist schulärztliche Expertise oftmals von zentraler Bedeutung. Schulärzt*innen waren in der ersten Phase der Pandemie (Mai 2020) stark in das seitens des Ministeriums vorgegebene „Verdachtsfallmanagement“ inklusive Durchführung von Testungen und Meldungen an das Gesundheitsamt eingebunden. Sie sind nach wie vor häufig in die Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19-bedingten Fragestellungen im schulischen Kontext eingebunden.

Zu den wesentlichen Aufgaben von Schulärzt*innen gehören gutachterliche Tätigkeiten wie die Ausstellung von Turnbefreiungen und sonderpädagogischen Gutachten sowie in speziellen Schulformen auch diverse Eignungsuntersuchungen der Schüler*innen. Pandemiebedingt werden Schulärzt*innen nun auch Atteste zu Maskenbefreiungen vorgelegt. Immer wieder sind diese aus schulärztlicher Sicht nicht nachvollziehbar und ziehen – wie auch diverse Anfragen zu Covid-19-Testbefreiungen – zeitintensive Gespräche mit Eltern, Schüler*innen und ärztlichen Kolleg*innen sowie den Juristen der Bildungsdirektion nach sich.

In der Covid-19-Pandemie erhielten die Schulärzt*innen zudem einen gänzlich neuen Arbeitsauftrag: Schulärzt*innen wurden im Herbst 2020 als Impfärzt*innen für die Grippeimpfung von Lehrer*innen herangezogen.


Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen

Der Zusammenhang von Bildung und Gesundheit wird von zahlreichen Studien belegt. Mehr Bildung wirkt sich maßgeblich auf Gesundheit und Lebenserwartung in einer Bevölkerung aus (vgl. Statistik Austria 2020). In den “Fairness Policy Brief Series” der Europäischen Kommission wird bezugnehmend auf eine Studie des Joint Research Center bereits im April 2020 festgehalten, dass während der Schulschließungen für den Lernerfolg von Kindern vor allem die Unterstützung durch Eltern und das häusliche Umfeld von großer Bedeutung sind und dass diese Ressourcen nicht allen Kindern gleichermaßen zur Verfügung stehen (vgl. Blaskó & Schnepf 2020).  Vorbestehende Bildungsungleichheiten und in der Folge Gesundheitsungleichheiten wurden durch die Covid-19-Pandemie verstärkt und drohen weiter zuzunehmen. So sollten neben biomedizinischen Maßnahmen auch umfassende soziale und solidarische Strategien in der Coronapandemie entwickelt werden.

Die vielfältigen Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern- und Jugendlichen spiegeln sich unter anderem auch in den Schuleingangsuntersuchungen wider. So zeigen Daten einer in Deutschland durchgeführten Studie von Susanne Bantel et al. (2021) zu Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen, dass Auffälligkeiten in der Sprachkompetenz, der Sprachförderbedarf sowie der Anteil der Kinder, die nur eingeschränkt oder gar kein Deutsch sprechen, deutlicher zugenommen haben als in den Jahren davor. Zudem konnte eine Zunahme von Übergewicht und feinmotorischen Auffälligkeiten sowie ein Anstieg des Medienkonsums festgestellt werden. Kinder haben zunehmend Ein- und Durchschlafprobleme und klagen über Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit oder Appetitlosigkeit. Des Weiteren wurde eine Zunahme psychischer Beschwerden verzeichnet.

 

Zusammenfassung

Unterschiedliche Studien belegen weitreichende Folgen der Covid-19-Pandemie auf das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen. Im selben Zeitraum ist ein Rückgang an Vorsorgeuntersuchungen sowie ein vermehrtes Auftreten von Impflücken zu verzeichnen. Schulärzt*innen können in diesem Zusammenhang kompetent informieren und erfüllen wertvolle Arbeit im Rahmen der jährlichen Reihenuntersuchungen sowie Case-Managementfunktionen, damit Kinder und Jugendliche notwendige medizinische Abklärungen oder Behandlungen erhalten können. Die Covid-19- Pandemie hat insbesondere zu einer deutlichen Zunahme an psychischen Belastungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter geführt. Worte für das psychische Leid zu finden, ist für Schüler*innen oftmals schwierig. Psychische Beschwerden werden häufig körperlich ausgedrückt. Schulärzt*innen können eine Schlüsselrolle spielen, um psychisch auffällige Kinder und Jugendliche gezielt an Mitglieder des schulischen Supportsystems, beispielsweise Schulpsychologie oder psychiatrisch-psychotherapeutische Versorger, weiterzuleiten. Immer wieder sind Schulärzt*innen auch mit suizidalen und anderen Krisen konfrontiert. Ein bewährtes Fortbildungsangebot der Ärztekammer für Steiermark möchte Schulärzt*innen mit wichtigen praxisrelevanten Informationen für den Bereich ihrer schulärztlichen Tätigkeit stärken: „Krisenintervention in der Schule und in der Jugendarbeit“ – kann nun zum zweiten Mal – im April 2022 angeboten werden.

 

Dr. Angela Huber-Stuhlpfarrer
ist Schulärztin am Bundesrealgymnasium Keplerstraße in Graz und Co-Referentin im Schulärztereferat der Ärztekammer Steiermark.

 

 

Quellennachweise:

Allinger, L. & Lichtenberger, H. (2021): Armut in Österreich. Einblicke in die aktuellen Daten der EU-SILC 2020. Hrsg. von der Volkshilfe. Online: https://www.volkshilfe.at/fileadmin/user_upload/Media_Library/Bilder/Bilder_nach_Themen/Kinderarmut/Volkshilfe_Analyse_EU_SILC_Fact-Sheet.pdf [15.11.2021].

Bantel, S. et al. (2021): Kindergesundheit in der COVID-19-Pandemie: Ergebnisse aus den Schuleingangsuntersuchungen und einer Elternbefragung in der Region Hannover. Online:

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8553103/ [10.02.2022]

Blaskó, Z. & Schnepf, S. V. (2020): Educational inequalities in Europe and physical school closures during Covid-19. In: Fairness Policy Brief Series (The European Commission’s science and knowledge service), 04/2020. Online: https://ec.europa.eu/jrc/sites/jrcsh/files/fairness_pb2020_wave04_covid_education_jrc_i1_19jun2020.pdf [15.11.2021].

Brickner, I. & Fink, A. (2021): Kinder in der Pandemie: Gibt es die Generation Corona? (2021). Derstandard. Online: https://www.derstandard.at/story/2000132550037/kinder-in-der-pandemie-gibt-es-die-generation-corona. [10.02.2022].

Statistik Austria (2020): Soziale Faktoren haben einen prägenden Einfluss auf die Gesundheit. Pressemitteilung 12.375-215/20. Online: https://www.statistik.at/web_de/presse/124809.html [29.9.2021].

Steinert, J. & Ebert C. (2020): Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während Covid-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen. Zusammenfassung der Ergebnisse. Online:  https://drive.google.com/file/d/19Wqpby9nwMNjdgO4_FCqqlfYyLJmBn7y/view [5.11.2021].

Wagner, H. (2020): Halt geben, Ehrlichkeit, sowie Zuversicht. Kinderarzt und Psychotherapeut Klaus Vavrik im KiKu-Gespräch über Ängste von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise. In: Kurier, 10.4.2020. Online: https://kurier.at/kiku/in-zeiten-von-corona-bzw-covid-19-halt-geben-ehrlichkeit-sowie-zuversicht/400808843 [6.8.2021].

Wilkinson, R. & Marmot R. (2004): Soziale Determinanten von Gesundheit. Die Fakten. Zweite Ausgabe, Weltgesundheitsorganisation. Online: https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0008/98441/e81384g.pdf [16.11.2021].

 

Fotos: Opernfoto, Adobe Stock (2)

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