AERZTE Steiermark 07-08/2024

 

Ein heilsamer Ort

Multidisziplinäre Unterstützung, welche die Würde der Person in den Mittelpunkt stellt, bietet die I.K.A. in Graz opiatabhängigen Menschen – der Erfolg gibt dem von ÖGK, Stadt Graz und Gesundheitsfonds finanzierten und von der Wissenschaftlichen Akademie für Vorsorgemedizin als Trägerverein geführten Projekt recht. 

Barbara Jöbstl

Zugegeben, der Name der Einrichtung klingt etwas sperrig: Die Interdisziplinäre Kontakt- und Anlaufstelle für Menschen mit alleiniger Opiatabhängigkeit oder in Kombination mit anderen Abhängigkeitserkrankungen und Komorbiditäten – kurz I.K.A. – bietet Erkrankten Hilfestellungen auf mehreren Ebenen an. Und die sollten sich im Namen abbilden, so der damalige Suchtkoordinator des Landes Steiermark und I.K.A.-„Geburtshelfer“ Peter Ederer. Seit ihrer Gründung 2012 ist die I.K.A. rasch gewachsen, weil auch der Zustrom opiat­abhängiger Menschen, die mit dem Substitutionsprogramm „aufgefangen“ werden können und sollen, beständig zunahm und -nimmt. So werden mit heutigem Stand rund 400 Patient:innen in der I.K.A. betreut.

Schaden minimieren

Die in der I.K.A. verfolgten multidisziplinären, therapeutischen und beraterischen Ansätze ermöglichen nicht nur eine Minimierung des durch die Suchterkrankung entstandenen Schadens, sondern auch die Verbesserung der gesundheitlichen und psychosozialen Situation – und bilden somit die Basis einer höheren und verbesserten Lebensqualität für die Betroffenen.

Messbare Erfolge

Der Erfolg dieses Konzeptes wurde anhand der Statistiken der vergangenen Jahre durch gut messbare Parameter (z. B. Reintegration in den Arbeitsmarkt, stabile Wohnversorgung etc.) belegt. Neben der sozialen Lage verbesserte sich aufgrund der ganzheitlichen, interdisziplinären Behandlung von psychischen und somatischen Komorbiditäten auch der Status der psychischen und körperlichen Gesundheit. Besonders hervorzuheben ist, dass sich bei vielen Patient:innen auch die erlebte Lebensqualität und die Lebenszufriedenheit merklich gesteigert haben. Die multidisziplinäre Unterstützung soll gesundheitliche und soziale Stabilisierung, Steigerung von Lebensfreude, Beziehungsfähigkeit und Selbstwert generieren. Als Resultat verbessern sich in der Folge diverse Parameter, wie etwa die oben angeführten.

Nun, wie gelingt das?

Anhand des Menschenbildes der Existenzanalyse/Logotherapie kann gut dargestellt werden, wo und wie in der I.K.A. angesetzt wird, um die genannten Faktoren zu stärken: Die Existenzanalyse beschreibt vier Grundbedingungen für ein gutes, erfülltes, zumindest bejahtes Leben, die als Motivationen in jede Handlung des Menschen einfließen: So strebt der Mensch nach Stabilität und Sicherheit im Erleben des eigenen Körpers und der Bedingungen in der Welt. Dafür braucht er die Erfahrung von Halt, Raum und Schutz. Der Mensch möchte das Leben als lebenswert erfahren – durch gefühlte Werte und Beziehungen, die Nähe, Wärme und Geborgenheit vermitteln. Der Mensch möchte als Person in seiner Würde und seinem Wert geachtet werden, Berechtigung und Wertschätzung für sein Sosein erfahren.

Und schließlich strebt der Mensch nach Sinn im Leben, indem er, in einem Kontext eingebettet, Aufgaben hat und sein Wirken in eine gute Richtung in der Zukunft führt. Auf Basis der Erfüllung und damit der Zustimmung zu diesen Grundbedingungen (zum Dasein, zum Leben, zum Selbstwert und zum Sinn) braucht es für ein gelingendes Leben außerdem die Fähigkeit, als Person mit sich selbst und der Welt in einen guten, offenen, begegnenden Dialog treten zu können.

Ursächliche Defizite und Verletzungen

Suchterkrankungen haben eine multifaktorielle Genese.
Aber immer finden wir bei genauer Betrachtung der Be­weggründe, warum Menschen mit Substanzkonsum begonnen haben, Defizite und Verletzungen einer oder mehrerer dieser Grundbedingungen und daraus erwachsene Unfreiheit und mangelnde Offenheit im Dialog mit sich selbst und der Welt. Einengungen durch Ängste, depressives Erleben, Selbstwertdefizite und Sinnlosigkeit führen zur unbewussten Suche nach etwas, das diese Spannungen lindert. Das Mittel zur Linderung ist bei besonders vulnerablen Menschen häufig ein Suchtmittel, das – je nach Suchtmittel – mehr oder weniger rasch zu einer Abhängigkeitserkrankung führen kann: Bei Opiatkonsum ist das sehr schnell der Fall.

Kreislauf der Sucht

Abhängigkeitserkrankungen führen zu einer Destabilisierung des Dasein-Könnens, da existenzielle Grundlagen wie körperliche Gesundheit und basale Absicherung durch Arbeit, Wohnen, tägliche Grundversorgung leiden. Weiters kommen viele Wertbezüge (etwa Beziehungen zu Freunden und Familie) abhanden – und damit Lebenswertes. Depressives Erleben ist eine häufige Folge. Im Kreislauf der Sucht und durch Einengung in der Not des Beschaffen-Müssens ist ein Abrutschen in die Delinquenz/Kriminalität begünstigt. Die Betroffenen verlieren zunehmend ihre Selbstachtung und durch das Abhandenkommen der Teilhabe an der Gesellschaft (Erwerbsleben, Freizeit- und Kulturangebote usw.) auch jeglichen Selbstwert.

Durch die ursächliche Behandlung dieser Defizite kann eine nachhaltige Verbesserung auf allen Ebenen ermöglicht werden, sofern die Schäden nicht schon zu tiefgreifend sind.

Multiprofessioneller Einsatz auf verschie­denen Ebenen

Das Behandlungskonzept der I.K.A. setzt darum bei den o. a. Grundbedingungen an und versucht diese zu stärken bzw. zu verbessern. Nach einem unverbindlichen Erstgespräch ist die Fest- und Diagnosestellung einer Opiatabhängigkeit eine der ersten Interventionen, um eine individuell angepasste schadensmindernde Substitutionsbehandlung einzuleiten. Das führt zur ersten großen Entlastung und Stabilisierung – körperlich, aber auch psychisch. Durch weitere medizinische Abklärung werden somatische und psychiatrische Komorbiditäten, Infektionen und andere medizinische Probleme erfasst und entsprechend behandelt. Diese erste basale Stabilisierung ermöglicht den Patient:innen, sich in weiterer Folge anderen wichtigen Themen der Existenzsicherung (Wohnversorgung, finanzielle Stabilisierung usw.) zuzuwenden. Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der Sozialen Arbeit. Schon alleine die Tatsache, nun in der I.K.A. angebunden und sucht- und allgemeinmedizinisch versorgt zu sein, verlässlich von der Ordinationsassis­tenz aufgenommen zu werden, einen Platz zum Hinwenden und Ansprechpersonen zu haben sowie das Erleben der Kompetenz und Unterstützung durch ein multiprofessionelles Team vermitteln Halt, Schutz und Raum. Zudem eröffnet sich mit der Substitutionsbehandlung der Weg aus der Illegalität in einen rechtlich abgesicherten Bezugsrahmen.

Wenn eine gute Basis und Existenzsicherung hergestellt und die dringlichsten Not­lagen beseitigt sind, geht es meist darum, sich wieder dem Leben zuzuwenden, Werte­ressourcen zu beleben und sich um jene Beziehungen zu kümmern, die unter der Suchterkrankung gelitten haben. Miteingeschlossen ist die Beziehung zu sich selbst, die es wieder aufzunehmen gilt, indem unter anderem Selbstfürsorge erlernt wird. Oft gilt es auch Beziehungsverletzungen zu bearbeiten. Diese spezifische Arbeit übernehmen – bei Bereitschaft und Wunsch der Patient:innen – vor allem die Psycholog:innen bzw. Psychotherapeut:innen.

Das Erleben, im interdisziplinären Team von jeder bzw. jedem an- und ernstgenommen zu werden, die Zuwendung und das Interesse für die Person des Patienten/der Patientin und seine/ihre Beweggründe wecken die Ahnung und verstärken das Gefühl, trotz Abhängigkeitserkrankung ein wertvoller, einzigartiger Mensch zu sein, der Wichtiges zu sagen und einzubringen hat. Menschen akzeptierend und wertschätzend, mit Achtung der Würde der Person zu begegnen, ist ein Grundprinzip der I.K.A. Das schließt nicht aus, destruktives, grenzüberschreitendes oder allenfalls gewalttätiges Verhalten klar zu begrenzen und in der Einrichtung zu unterbinden.

Die konkrete Bearbeitung und Stärkung des Selbstwertes und der Übernahme von Selbstverantwortung bzw. die Bearbeitung von Selbstwertverletzungen aus der eigenen Geschichte ist ebenso Aufgabe der Psycholog:innen, wobei wiederum alle im Team dazu beitragen, die Patient:innen in der Übernahme von Selbstverantwortung und damit im Selbstwert zu fördern. Durch Stärkung der drei Grundbedingungen eröffnen oder entwickeln sich trotz vorhandener Suchterkrankung häufig auch wieder Sinnperspektiven. Auch in der Orientierungsfindung steht das interdisziplinäre Team beratend zur Seite.

Sich selbst zuwenden

Selten gelingt es, das von den Patient:innen selbst häufig angestrebte und ersehnte Ziel der Abstinenz zu erreichen. Aus Sicht der I.K.A. heißt das nicht, dass die Suchtbehandlung nicht erfolgreich war. Denn: Wenn es Betroffenen gelingt, ihre Suchterkrankung als chronische Erkrankung zu akzeptieren, die Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung mit all ihren Rahmenbedingungen anzunehmen und damit den frustranen Kampf wiederholt gescheiterter Entzüge aufzugeben, ist ein Weg bereitet. Der Weg dafür, sich wieder dem eigenen Leben mit seinen Herausforderungen, individuellen Aufgaben und sich selbst zuzuwenden, wieder gestaltend und entschieden einzugreifen und sich für sich selbst und ein für sich selbst definiertes gutes Leben einzusetzen. Die Übernahme von  Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens, auch mit einer Suchterkrankung, ermöglicht den Ausstieg aus der Opferhaltung und einen gelingenden Alltagsvollzug im Rahmen der je eigenen Lebenswelt: Die Person befreit sich aus der Binnenhaftigkeit und Einengung des Suchterlebens und wird wieder offen für einen Dialog mit der Welt, sich selbst und anderen. Das gelingt natürlich nicht immer idealtypisch, oft sind die Möglichkeiten zugegebenermaßen bescheiden.

Ärztliche Berührungsängste abbauen

Ein großes Anliegen der I.K.A. ist es, Ärzt:innen zu gewinnen, die bereit sind, sich mit dem Thema Suchtmedizin und Substitutionsbehandlung zu befassen, die sich vorstellen können, in diesem Bereich tätig zu sein sowie Substitutionsbehandlung durchzuführen. Denn die Versorgungslage in der Steiermark war und ist durch Pensionierung von Substitutionsärzt:innen eng und mangelhaft. Umso wichtiger ist es der I.K.A., bei Ärzt:innen Berührungsängste mit diesen Patient:innen abzubauen, Stigmatisierung und Vorurteilen entgegenzuwirken und einen realistischen Blick auf Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen zu ermöglichen. Denn dieser Blick zeigt, dass Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung keinesfalls schlechtere, schuldhaftere Menschen sind, sondern Menschen wie alle anderen auch.

Daher bietet die I.K.A. neben Praktika für Ausbildungskanditat:innen der Psychotherapie und Sozialarbeit auch Ärzt:innen die Möglichkeit zur Hospitation an und unterstützt Ärzt:innen, die in ihrer Praxis mit der Substitutionsbehandlung beginnen und diese anbieten wollen. Das Substitutionsdiplom wird ebenfalls jährlich von der WAVM in Kooperation mit dem Zentrum für Suchtmedizin und der Ärztekammer Steiermark angeboten, um Ärzt:innen für den suchtmedizinischen Bereich zu gewinnen.

Zusätzlich fungiert die I.K.A. ab Herbst 2024 auch als Lehrordination für Famulant:innen und KPJ-Studierende für das Fach der Allgemeinmedizin. Die Lernmöglichkeiten beschränken sich nicht nur auf den allgemeinmedizinischen Alltag und die Substitutions- bzw. suchtmedizinische Behandlung, sondern sind durch die in der I.K.A. vorhandene Interdisziplinarität breit gefächert. Als medizinische Leiterin und langjährig in der I.K.A. tätige Ärztin kann ich nur dazu ermutigen, einen Blick in dieses spannende und äußerst sinnstiftende  Tätigkeitsfeld zu werfen und das sehr unproblematisch in der I.K.A. zu tun. Oder sich als Allgemeinmediziner:in mit Substitutionsdiplom jederzeit gerne in der I.K.A. zu bewerben.

 

Dr. med. univ. Barbara Jöbstl, Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutin (Existenzanalyse und Logotherapie), Lehrausbildnerin und Lehrsupervisorin der GLE-Int, Medizinische Leiterin der I.K.A.

Grazer Straße 50a1
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