AERZTE Steiermark 12/2024

 

„Eine Frage der Hingabe“

Vinzenz Harrer wollte in der ÖGK Steiermark weiter­machen. Die Kassen­reform sieht er kritisch. Die Umsetzung des Einheitlichen Leistungskatalogs ELK hält er für ein Langzeitprojekt, das sogar Jahrzehnte dauern kann.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Erfolge des Teams Harrer/Harb?

Allen voran stand die konstruktive Zusammenarbeit und die gemeinsamen Ziele im Interesse unserer Versicherten. Josef Harb und ich haben uns die Aufgaben gut einteilt, so dass wir unser Haus stets gut vertreten konnten und haben auch viele Projekte vorangetrieben. Sehr vieles konnten wir zusammen mit unseren Vertragspartnern, dem Land und auch mit der Politik erreichen: Der Ausbau der radiologischen Versorgung, die Invertragnahme von rund 20 Primärversorgungseinheiten, bzw. -zentren wie auch Primärversorgungsnetzwerken sind sicherlich die sichtbarsten Erfolge. Wir konnten aber auch viele Einzelleistungen und Pilotprojekte auf den Weg bringen.

Hätten Sie gerne noch weitergemacht? In der Kleinen Zeitung werden Sie ja damit zitiert, dass Sie „in Ungnade gefallen“ wären.

Ja, es war meine Absicht mich für eine weitere Periode in den Dienst der Gesundheit zu stellen. Nachdem ich die Leistungen der Interessensvertretung und auch das Verhalten einzelner Verantwortungsträger innerhalb der Wirtschaftskammer und des Wirtschaftsbundes öffentlich in Frage gestellt habe – allen voran die Aktivitäten und die Besoldung für die Ausübung eines Ehrenamts bei Landesgruppenobmann Josef Herk –,
hat mich die Wirtschaftskammer nicht mehr für diese Funktion entsandt. Es gab noch weitere Ungereimtheiten, welche ich nach wie vor in Frage stelle und die bis heute nicht erklärt wurden. Für mich ist die Ausübung einer Funktion und auch eines Ehrenamts eine Frage der Hingabe und nicht eine der Gegenleistung. Funktionär zu sein, heißt die Interessen der Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen und sich den gemeinsamen Herausforderungen zu verpflichten.

Ihre Nachfolgerin steht mit Beatrice Erker, Obfrau der Fachgruppe Buch- und Medienwirtschaft, angeblich bereits fest. Was muss sie schaffen, was bisher noch nicht gelungen ist?

Vorweg ist es mir wichtig, den Einsatz und die Erfahrung, die meine Nachfolgerin mitbringt, zu würdigen. Ich bin überzeugt, dass sie den Aufgaben gewachsen ist und sich aktiv einbringen wird. Die größte Hürde, die es zu nehmen gilt, ist die Struktur der Selbstverwaltung, die uns durch die Reform der Sozialversicherungen auferlegt wurde. Josef Harb und ich konnten das Haus und damit auch die handelnden Personen noch in der alten StGKK kennenlernen. Diese Verbindungen sind in der derzeitigen Organisationsstruktur nicht mehr vorhanden, was die Arbeit der Selbstverwaltung auf der Landesebene massiv erschwert. Aus Sicht der länderspezifischen Bedürfnisse hat die Reform keine sichtbaren Vorteile gebracht. Die Entscheidungswege sind lang geworden und die Verantwortungsträger auf ganz Österreich verteilt. Die größte Herausforderung wird die Vernetzung innerhalb der ÖGK und auch über das Haus hinaus sein. Ich durfte in vielen Gremien und Einrichtungen rund um die Gesundheitsversorgung in der Steiermark aktiv mitarbeiten. Diese persönlichen Verpflichtungen und Verbindungen sind nur zum Teil übertragbar. Auch die veränderten politischen Rahmenbedingungen werden ihr Spuren zeichnen und der Selbstverwaltung Vieles bzw. Großes abverlangen. 

Den einheitlichen Leistungskatalog ELK gibt es jetzt schon seit fast fünf Jahren. Warum ist er noch nicht umgesetzt?

Mit dem einheitlichen Leis­tungskatalog stößt die reformierte Sozialversicherung an ihre Grenzen. Mit großem Geschick und viel Einsatz wird es gelingen, die Leistungen zu vereinheitlichen. Bei den Tarifen werden sich die wirklichen Herausforderungen zeigen. Das Management der ÖGK hat zwar an der Reform mitgearbeitet und die Notwendigkeiten mit ins Gesetz geschrieben, muss sich jetzt aber eingestehen, dass diese Vereinheitlichung Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – benötigen wird, um finanzierbar zu sein. Unabhängig vom einheitlichen Leistungskatalog müssen auch die regionalen Gegebenheiten und Bedürfnisse Platz finden. Ohne mittel- und zum Teil auch langfristige Annäherungspfade wird es nicht funktionieren. Ich gehe auch davon aus, dass es eine Reform der Reform braucht, um den Erfordernissen nachzukommen.

 Laut Medienberichten erwartet die ÖGK österreichweit für 2025 einen Abgang von bis zu 800 Millionen Euro. Düstere Prognosen, die dann nicht eintreffen, gibt es offenbar trotz der Kassenreform weiter …

Die Abgänge in der ÖGK waren seit Monaten voraussehbar. Die Kosten entwickeln sich – ähnlich wie in der Wirtschaft – wesentlich schneller als die Einnahmen. Auf Grund der Gesamtsituation am Arbeitsmarkt ist davon auszugehen, dass die Prognosen noch immer zu optimistisch sind. Ich rechne mit einer Milliarde im kommenden Jahr – und so wie es aussieht – auch für 2026 und 2027. Es wird massive Einschnitte brauchen, um den Abgängen Herr zu werden. Wenn wir nicht den Mut aufbringen, den Menschen zu sagen, dass es künftig weniger Leistungen gibt, drohen wir zu kollabieren. Die Lenkung der Patient:innenströme, das Vermeiden von Mehrfach-Inanspruchnahmen und eine geordnete Koordination zwischen den niedergelassenen Leistungen und den Spitälern sind unumgänglich. Man kann die Spitäler nicht entlasten, wenn man nicht in den niedergelassenen Bereich investiert. Die Zuzahlungen der SV-Kassen in die öffentlichen Spitäler sind zu kürzen und das Budget für die Vertragspartner der Kassen zu verstärken. Die Politik darf die Defizite in der Gesundheitsversorgung nicht unterschätzen: Ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem bewahrt den sozialen Frieden im Land.

 Die Kassenreform wird unterschiedlich kommentiert. Was ist Ihre Einschätzung?

Die Kassenreform beinhaltet gute Absichten, aber viele Umsetzungshürden. Das Verteilen von Leistungen und Zuständigkeiten für mehrere Bundesländer senkt keine Kos­ten, sondern erhöht Reisetätigkeiten und bringt disziplinäre Defizite in der Führung der Mitarbeiterstrukturen. Die Unzufriedenheit der Mitarbeiter:innen steigt und stellt über kurz oder lang eine massive Herausforderung dar. Man möchte die modernste Kasse in Europa werden, konzentriert sich auf digitale Innovationen, verändert stabile Prozesse und übersieht, dass die Kernprozesse noch nicht ausreichend gefestigt sind. Das Management ist hier gefordert, sich weniger auf Berater:innen und mehr auf die Erfahrung der langjährigen Mitarbeiter:innen – vor allem der Führungskräfte – zu konzentrieren. Es sind fünf Jahre vergangen, ein Ende ist noch nicht in Sicht.

Wie beurteilen Sie das Thema „Ärztemangel“? Was muss da geschehen?

Wir haben so viele Ärztinnen und Ärzte wie noch nie. Der Bedarf ist nur zu einem geringen Teil dem Bevölkerungswachstum geschuldet, mehrheitlich wird der Bedarf durch die Überalterung der Bevölkerung getrieben. Einen Teil des Bedarfs kann man dem Fortschritt zurechnen. Wir haben immer mehr Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Eine große Zahl von Ärzt:innen arbeitet Teilzeit in einem Dienstverhältnis und betreibt nebenbei eine Wahlarztordination. Durch diese Gegebenheit fehlen uns die Kapazitäten in den Spitälern und auch bei den Vertragsärzt:innen. Dieser Entwicklung kann man mit Geld nur bedingt entgegenwirken. Neben der klareren Regelung von Mindestarbeitsstunden in den Einrichtungen und der Veränderung im Zuge der Rückerstattung für Wahlarztleistungen muss die Annahme von Kassenverträgen weiter attraktiviert werden.

PVE binden laut Gesetz 3 Kassenstellen. Wie stehen Sie zu Primärversorgungseinheiten? Sind sie tatsächlich eine Alternative zu Einzelordinationen?

Die PVE sind eine besondere Kooperationsform in der Gesundheitsversorgung. Sie ermöglichen vor allem jungen Ärztinnen und Ärzten  den Einstieg in die niedergelassene Versorgung. Durch die vor- und nachgelagerten Gesundheits- bzw. Therapieleistungen entsteht ein besonderes Angebot für unsere Versicherten. Ich halte sehr viel von diesen Versorgungseinrichtungen. Sie sind eine wirkliche Weiterentwicklung und helfen uns, den wachsenden Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. PVE sind keine Alternativen zu den Einzelordinationen, sondern eine schlagkräftige Ergänzung. Wir werden künftig beides brauchen, um eine flächendeckende Versorgung sicherstellen zu können.

Werden Sie sich als Funktionär komplett zurückziehen?

Ich konnte in den letzten 15 Jahren sehr viel Erfahrung sammeln und ein großes Netzwerk innerhalb der Wirtschaft sowie auch in der Gesundheitsversorgung knüpfen. Diese Erfahrungen möchte ich weiterhin im Sinne einer funktionierenden Interessensvertretung und zum Wohle der Menschen in diesem Land einbringen. Wie und in welchem Rahmen ich mich weiterhin einbringen kann, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Mein Ausscheiden aus den derzeitigen Wirtschaftsbund-nahen Funktionen eröffnet neue Wege und gibt mir die Freiheit, neue Ideen zu verfolgen. Neben einer längst fälligen Reform in der Wirtschaftskammer wird auch das Gesundheitssystem verändert werden müssen. Es gibt sehr Vieles zu tun. Für diese Herausforderungen gilt es, die richtigen Partner und Persönlichkeiten zu finden.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Vertragspartner Ärztekammer?

Ich habe die Ärztekammer und deren Funktionär:innen, wie auch Mitarbeiter:innen zu schätzen gelernt, auch wenn wir in vielen Positionen unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen vertreten. Es braucht eine gebündelte, starke Interessensvertretung, die versucht, die Rahmenbedingungen für ihre Mitglieder ständig zu verbessern und das Gesundheitswesen stets weiterentwickelt. Was ich mir wünsche, ist der Mut zur Veränderung und auch zur Erneuerung. Ich hoffe auf die politische Vernunft und den Willen, die Autonomie der Länder zu nutzen, sie zu fördern und nicht bedingungslos zu zentralisieren. Gerade in der Gesundheitsversorgung müssen wir ganz nah bei den Menschen sein, um ihre Sorgen, ihre Nöte und vor allem ihre Bedürfnisse zu spüren. Ich darf mich für die wertvolle Zusammenarbeit mit der Politik, den Interessenvertreter:innen und vor allem bei den unzähligen Vertragspartner:innen für die wertvolle Zusammenarbeit bedanken. Sie alle leis­ten großartige Arbeit und geben der Bevölkerung das, was man braucht, um gut und vor allem gesund leben zu können.

 

Die Nachfolgerin

Als Nachfolgerin von Vinzenz Harrer für den Landes­stellenaus­schussvorsitz in der ÖGK Steiermark hat die Wirtschaftskammer Mag.a Beatrice Erker, die Obfrau der Fachgruppe Buch- und Medienwirtschaft in der Steiermark, designiert.

Erker ist seit 2002 Geschäftsführerin des auf Steuer- und Wirtschaftsrecht spezialisierten dbv-Verlages in Graz. Gegründet hat den Verlag der Vater von Beatrice Erker, Gerhard Erker. Seit 2017 führt das Unternehmen das steirische Landeswappen. Die Verleihung erfolgte anlässlich des 40-jährigen Firmenjubiläums.

Als einziger steirischer Fachverlag bietet dbv laut Selbstdarstellung seit 2011 eine umfangreiche Auswahl an E-Produkten vom eigenen E-Book-Shop bis zu Online-Lösungen für Steuerberater-Homepages in Form von Inframing-Technologie. Das Angebot an elektronischen Produkten sowie an Service-Angeboten im B2B-Bereich wird laufend ausgeweitet. Branchen-Kooperationen wie beispielsweise mit LexisNexis machen die Verlagsinhalte für noch mehr Anwender verfügbar.

 

Fotos: Michaela Grabner/Salondeluxe, Mathias Kniepeiss