AERZTE Steiermark 01/2025

 

Gemeinsam gut versorgen: „Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich“

Bis zum 31. März 2025 liegen Unterschriftenlisten zur Unterstützung der Resolution „Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich“ in den steirischen Spitälern und Ordinationen auf. Die Ziel­setzung: entschlossene und nachhaltige Reformen zur Stärkung zentraler Versorgungsstrukturen, um die Gesundheitsversorgung zu sichern.

Angestoßen wurde die von der Ärztekammer unterstützte Resolution durch Prim. Erich Schaflinger, dem Vorsitzenden des Koordinationsgremiums für Versorgungssicherheit und ärztlichen Leiter des LKH Hochsteiermark, der damit   umfassende, entschlossene und nachhaltige Reformen zur Stärkung zentraler Versorgungsstrukturen unterstützen möchte.

Gemeinsam gut Versorgen

Der Resolutionstext bringt kurz und bündig auf den Punkt, was zur Absicherung der Gesundheitsversorgung nötig ist: Niedergelassene Ärztinnen & Ärzte, Spitalsärztinnen & Spitalsärzte, Gesundheitspersonal sowie Patientinnen & Patienten unterstützen gemeinsam folgende Ziele: GESICHERTE VERSORGUNG für Patient:innen durch Stärkung & Ausbau des niedergelassenen Bereichs und bedarfsorientierte abgestufte Spitalsstruktur mit Schwerpunktsetzungen. Unterstützen Sie die Resolution und das Volksbegehren „Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich“. Es geht um Ihre Gesundheit.

Bei der Präsentation der Resolution vor der Presse wies Schaflinger darauf hin, „dass nur ein Schulterschluss zwischen niedergelassenen Ärztinnen/Ärzten und dem Spitalsbereich eine nachhaltige Strukturverbesserung im Gesundheitswesen bewirken kann. Die steirischen Ärztinnen und Ärzte sehen es als ihre Verantwortung und machen sich gemeinsam für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung stark.“ Die in der Resolution geforderte Stärkung der Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sei „ein wichtiges Anliegen, das jedem vernünftigen Menschen am Herzen liegen muss“, so Ärztekammer-Steiermark-Präsident Michael Sacherer, „ein Sparprogramm im Gesundheitsbereich würde die Österreicherinnen und Österreicher krank machen“, warnte Sacherer. Mit der Informationskampagne „Zuerst zum Hausarzt“  sowie den Leitfäden „Wohin mit welcher Krankheit?“ für Erwachsene und Kinder habe die Ärztekammer Steiermark bereits wichtige Schritte gegen die Spitalslastigkeit des Systems gesetzt.

Der Obmann der angestellten Ärztinnen und Ärzte in der Steiermark, Gerhard Posch, sagte, „dass die Stärkung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte der einzige Weg ist, um die Spitäler wirkungsvoll zu entlasten“. Dies sei angesichts der ungesund hohen Frequenzen der Notfallambulanzen ein Gebot der Stunde.  Die Anzahl der ambulanten Patientinnen und Patienten in den KAGes-Spitälern ist von 976.560 im Jahr 2017 auf 1.085.791 im Jahr 2023 angestiegen. Diese Zahlen verdeutlichen die Dringlichkeit, Patientenströme besser zu lenken. Neben strukturellen und finanziellen Maßnahmen müsse auch eine Reduktion der Bürokratie erfolgen, damit die Ärztinnen und Ärzte ausreichend Zeit für die Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten im Spital haben, so Vizepräsident und Angestellten-Kurienobmann Posch.

„Von der Stärkung der Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wird zwar viel gesprochen, die Politik und die Pflichtkrankenkassen müssen aber endlich ins Handeln kommen“, monierte Dietmar Bayer, Obmann der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in der Steiermark. In Richtung Regierungsverhandlungen auf Bundesebene mahnte Bayer ein, dass der Schwerpunkt nicht nur auf Wirtschaft liegen darf, sondern die Anliegen der Bevölkerung ebenso Gehör finden müssen und das Thema Gesundheit die größte Baustelle der Republik darstellt. Ohne gesunde Menschen gäbe es keine gesunde Wirtschaft. Der unzureichende Leistungskatalog der ÖGK verhindere eine zeitgemäße Versorgung der Patientinnen und Patienten, so Bayer. Dringend erforderlich seien nun strukturelle Maßnahmen, wie in der Resolution Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich formuliert. Bayer kritisierte auch „das zögerliche Vorgehen der ÖGK, die als bei weitem größte Pflichtkrankenkasse ein massives Sparprogramm zu Lasten ihrer Versicherten und unserer Patientinnen und Patienten“ gehe. Mit der Abschaffung von Limiten und Degressionen und neuen Rahmenvereinbarungen wie Jobsharing können Kassenstellen attraktiver werden.

Die Forderungen

Mit der Verabschiedung der Resolution sind konkrete Forderungen verbunden:

  • Um die Gesundheitsversorgung in der Steiermark sicherzustellen, sind 200 neue Kassenstellen erforderlich.
  • Die Neuschaffung von 23 Kassenstellen für Innere Medizin, die aus einer Erhebung der Fachgruppe Innere Medizin hervorgegangen sind, ist unausweichlich für die Versorgung der Steirer:innen.
  • Hierzu sind zusätzliche finanzielle Mittel notwendig.

Die Ärztekammer Steiermark hat Unterschriftenlisten sowie Informationsplakate an Arztpraxen und Spitäler verschickt, um die Resolution „Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich“ zu unterstützen. Die Steirerinnen und Steirer können bis zum 31. März 2025 unterschreiben.

 

Warum Ärztekammern???

Warum brauchen Ärztinnen und Ärzte eine eigene Kammer? Die Frage hat der berühmte Arzt Theodor Billroth schon vor mehr als 133 Jahren beantwortet. Viele seiner Pos­tulate wären heutzutage in einer Resolution wie der aktuellen „Gesunde Steiermark/Gesundes Österreich“ durchaus gut aufgehoben.

Theodor Billroth (1829–1894) war kein einfacher Mensch. Aus einer deutschen Pastoren- und Theologenfamilie stammend, verband ihn dennoch viel mit Österreich: In Wien übernahm er 1868 die 2. chirurgische Lehrkanzel (II. Chirurgische Universitäts-Klinik), deren Vorstand er bis zu seinem Tod blieb.

Der Namensgeber der Grazer Billrothgasse (in unmittelbarer Nähe des Universitätsklinikums) war aber nicht nur einer der berühmtesten deutschsprachigen Chirurgen, er war auch bekennender Antisemit, ein persönlicher Freund des Komponisten  Johannes Brahms und ebnete als Mitglied des „Herrenhauses“ (= Oberhaus) des  Reichsrates den Ärztekammern in den Ländern der Monarchie den Weg: In einer wortgewaltigen Rede begründete er dort deren Notwendigkeit. Die schloss er mit den Worten „dass ich die Errichtung von Ärztekammern nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch im Interesse des ärztlichen Standes für hochwichtig halte“. Zuvor sagte er einiges, das auch gut 133 Jahre später nichts an Bedeutung verloren hat:

 „Die Ärztekammern sollen den Ärzten eine gesetzlich autoritative Stellung im Staate geben und sie dadurch in die Lage setzen, wirkungsvoller auf ihre Kollegen im Interesse der Standes-Würde Einfluss zu nehmen, als dies bisher tunlich war. Auch dies wird dem Gesamtwohl zu Gute kommen, indem auch das Publikum in die Lage versetzt wird, ärztliche Gebarungen, die es für unzulässig hält, und durch welche es sich verletzt fühlt, zur Kenntnis der Kammer zu bringen. (…).

Die Ärztekammern sollen aber auch dem ärztlichen Stande, der wahrlich zu den mühevollsten gehört, einen korporativen Halt geben, nicht nur in moralischer, sondern auch in materieller Beziehung; sie sollen die Ärzte auch vor ungebührlichen Anforderungen des Publikums schützen.

Nur an die letzteren Gesichtspunkte erlaube ich mir Einiges anzuknüpfen, da ich glaube, dass das Übrige in genügender Weise besprochen ist. (...) In der Hand dieser Männer  (Anm.: Lehrer, Richter, Advokat und Arzt) liegt die Macht, sowohl auf die sozialen und ethischen, als auch auf die politischen Anschauungen im Volke einzuwirken: nicht nur durch Belehrung und gelegentliche Gespräche, sondern mehr noch dadurch, dass sie durch ihr Beispiel das Gefühl für Pflichttreue nach allen Richtungen, für Wohlwollen gegen andere Menschen, für Toleranz und Verträglichkeit, für Humanität im weitesten Sinne wecken und erhalten; denn nach meinen Erfahrungen bleibt das Beispiel in den kleinsten, wie in den größten Kreisen doch immer das wirksamste pädagogische Agens. Es hat nun der …  Geistliche die gewaltige Macht der Kirche … hinter sich; Richter und Advokat werden durch ihre Beziehungen zu den Gesetzen von der Autorität des Staates gestützt. Die Advokaten finden außerdem Zuflucht in ihren Kammern. Der Arzt schwebt in Betreff seiner staatlichen Stellung mit seinem Beruf gewissermaßen in der Luft. Er ist immer nur ein Einzelner. Trotzdem, dass die Gesellschaft ihm eine Stellung gegeben hat, die an persönlicher Verantwortung von Mensch zu Mensch mit gar keiner anderen vergleichbar ist, bietet ihm der Staat nichts mehr, als was jeder einzelne Staatsbürger auch hat: den Schutz der Gesetze, von welchem ihm für die besondere Art seines schweren Berufes gar wenig zu Gute kommt; er muss es sogar ängstlich vermeiden, die Gesetze für ein an ihm vom Publikum begangenes Unrecht anzurufen, weil ihm das in seiner Praxis schaden könnte.

Wenn ich sagte, der Arzt habe eine ganz eigentümliche, mit keiner anderen vergleichbare Stellung unter seinen Mitmenschen, so lassen Sie mich das nur durch ein prägnantes Beispiel erläutern. Nehmen Sie den häufigen Fall, dass jemand sich einer schmerzhaften Operation unterziehen muss, um seine Gesundheit wieder zu erlangen, so lässt er sich vom Arzt durch die Einatmung eines in der Hand eines Ungeübten gefährlichsten Giftes besinnungslos und schmerzlos machen. Der Arzt kann nun mit dem Besinnungslosen tun, was ihm beliebt.

Gibt es einen intensiveren Ausdruck von persönlichem, menschlichem Vertrauen überhaupt? Ich glaube kaum. – Der Advokat, welchem der Klient vielleicht die Entscheidung über den Besitz seines ganzen Vermögens oder über die Erhaltung seiner bürgerlichen Ehre vertrauensvoll in die Hände legt, befindet sich in einer ähnlichen Lage wie der Arzt zum Patienten. Am Leben selbst aber, an der süßen Gewohnheit des Daseins, hängen doch die meisten Menschen noch mehr als an der Art zu leben.

Man sollte nun meinen, dass diese eigenartige Stellung in der Gesellschaft die natürliche Konsequenz haben müsste, dem ärztlichen Stande als solchem eine bestimmte bevorzugte Stellung im Staate zu geben. Das war bisher nicht der Fall und das vorliegende Gesetz ist nur ein kleiner Anfang in dieser Richtung. Doch es ist ein Anfang, die soziale Stellung des Arztes zu fixieren; das Gesetz ist einer weiteren Entwicklung fähig; ich begrüße es darum als eine Wohltat für den ärztlichen Stand.

 Als Vertreter dieses Standes in diesem hohen Hause halte ich es für meine Pflicht, auf gewisse abfällige Bemerkungen über meinen Stand einzugehen, welche im hohen Abgeordnetenhause gelegentlich der Debatte über die Ärztekammern gefallen sind, und die ich auch sonst wohl schon vernommen habe.

Es ist behauptet worden, der ärztliche Stand sei in neuerer Zeit diskreditiert und genieße
nicht mehr das Vertrauen und jene Hochachtung, welche ihm früher entgegengebracht wurde; es sei das daraus hervorgegangen, dass eine Anzahl von Ärzten ihre besonderen Leistungen dem Publikum in Annoncen anpreise und sich auch sonst nicht so benehme, wie es der Würde ihres Standes zukomme. Ich halte diese Behauptung in dieser Fassung für unrichtig, ihre Motivierung für ganz falsch.

Nach den Eindrücken, welche ich aus meinen historischen Studien und aus den traditionellen Mitteilungen älterer Ärzte, ja zum Teile noch aus eignen Erfahrungen in jüngeren Jahren gewonnen habe, halte ich mich zu der Behauptung berechtigt, dass durch die naturwissenschaftliche Auffassung der medizinischen Wissenschaften der Standpunkt der Ärzte in unserer Zeit ein weit höherer geworden ist, als er es je zuvor war; ja ich behaupte sogar, dass die enormen Fortschritte und Erfolge meiner Specialwissenschaft ebenso viel auf der gesteigerten Gewissenhaftigkeit der Ärzte bei Anwendung der auf naturwissenschaftlichen Grundlagen basierenden neuen Verfahren, als auf diesen selbst beruhen; und dass man, das ‚Können‘ vorausgesetzt, aus den operativen Erfolgen auf den ethischen Standpunkt des Operateurs schließen kann.

Wahrheit, soweit sie durch menschliches Erkenntnisvermögen erreichbar ist, Klarheit über das, was wir wissen und nicht wissen, das streben wir an. Wahrheit und Klarheit sind die ethischen Fundamente der Naturwissenschaften, wie diejenigen des sozialen Lebens. Für den naturwissenschaftlichen Bau sind diese Fundamente stark genug, den kühnsten und höchsten Tempel zu tragen. Für den sozialen Bau müssen wir freilich mit der Gebrechlichkeit des Materials und dem weichen Untergrunde – der menschlichen Empfindung – rechnen. (…)

Ich gebe dem … Rektor …vollkommen Recht, wenn er … stark betont, dass das­jenige, was er in großen Zügen als ‚politische Bildung‘ bezeichnet, nicht vernachlässigt werden darf: Und wenn ich darunter auch die sorgfältige Beobachtung und ernste Beachtung des wunderbaren Kunstwerks der menschlichen Gesellschaft und der Beziehungen der Menschen untereinander einbegreifen darf, so muss ich auch für den Arzt ein gut Teil dieser Art von Bildung verlangen; denn er soll den Menschen nicht nur als Tierkörper, sondern auch als Mitmenschen menschlich auffassen. Die Krankheit soll durch einseitig naturwissenschaftliches Denken verstanden, wenn möglich auch geheilt werden; der Kranke will aber mit politischer Bildung behandelt sein.

Das erwähnte Missverhältnis zwischen den Ansprüchen des kranken Menschen und dem Vermögen unserer Kunst macht dem klinischen Lehrer viel zu schaffen. Ich soll ,praktische Ärzte‘ ausbilden. Es ist meine Pflicht, meinen Schülern die volle Wahrheit zu sagen, sowohl über die Grenzen der Erkennbarkeit der verschiedenen Krankheitsprozesse, wie über die Mittel auf dieselben einzuwirken. Man könnte sogar den Satz aufstellen, dass wir mit der exakten Erkenntnis des Wesens eines Krankheitsprozesses oft den Gedanken, ihn direkt bekämpfen zu wollen, aufgeben müssen. In vielen Fällen, zumal bei der Besprechung schwer heilbarer oder unheilbarer Krankheiten muss ich nun nach der naturwissenschaftlichen Darlegung des Krankheitsprozesses und unseres Verhältnisses zu ihm in Gedanken einen Strich machen und meinen Schülern sagen: ‚Wenn Ihr so zu Euern künftigen Patienten sprecht, dann werdet Ihr sie nicht nur in ihrem Unglück noch weiter herabdrücken, sondern sie werden sich auch von Euch abwenden, ihr werdet keine Praxis bekommen. Ihr dürft dem Kranken nie die Hoffnung auf Besserung benehmen, selbst wenn Ihr seinen baldigen Tod vor Augen seht. Der Kranke will von Euch Rath, Trost, Hoffnung: gebt Ihr ihm nichts davon, so mögt Ihr vortreffliche Diagnostiker und Prognostiker sein, – aber ihr seid keine Ärzte.‘

(...) Man macht eben an die ärztliche Kunst Ansprüche, die vielfach absolut unerfüllbar sind. Die Geologen haben uns durch ihre Forschungen über Vulkane und Erdbeben schon ziemlich befriedigende Aufschlüsse gegeben; wollte man von ihnen verlangen, sie sollten nun auch den Schaden verhüten, welchen diese Naturvorgänge für die Menschen nach sich ziehen, so würde man das für sehr töricht halten. Etwas Ähnliches verlangt man aber oft von den Ärzten. Wir können nur mit erforschten Naturkräften gegen erforschte Naturkräfte wirken. Wunder können wir nicht tun.

(...) Der tüchtige Arzt soll nicht nur über eine gewisse Summe von Fachkenntnissen verfügen, sondern er muss vor Allem auch ein gewissenhafter und guter Mensch sein. Das sind Eigenschaften, welche man den Schülern nicht vom Katheder aus andozieren kann, wenn man diese Eigenschaften auch als klinischer Lehrer durch Beispiel und Methode zu erweitern vermag. Es sind Charaktereigenschaften, die zuweilen, wie gesagt, in ihren Anlagen angeboren sind und im Schosse der Familie entwickelt werden müssen;

Ich komme nun wieder zurück auf das jetzige Verhältnis des Arztes zum Publikum. Aus der nicht selten hervortretenden ehrlichen Unsicherheit im Benehmen der jüngeren Ärzte hat sich der Gesellschaft in manchen Fällen eine gewisse Vertrauens-Unsicherheit gegenüber der ärztlichen Kunst bemächtigt. Ich finde das ganz begreiflich und insofern vorteilhaft für den Arzt, als man anfängt zu verstehen, dass er keine Wunder tun kann. Ich halte es aber für ungerecht, den ärztlichen Stand dafür verantwortlich machen zu wollen, dass unser Wissen und Können nicht immer den Hoffnungen und Wünschen entspricht, welche der Mensch in seinen Leiden hegt. Das Publikum versucht vielfach, sich durch die Lektüre allerlei populärmedizinischer Bücher selbst ein eigenes Urteil zu bilden, und glaubt sich berechtigt, dies dem Arzt gegenüber geltend zu machen. Da gibt es denn freilich viele Missverständnisse.

Es kommt hinzu, dass das Prinzip der persönlichen Autorität durch unsere modernen politischen und sozialen Wandlungen einen argen Stoß erlitten hat. Auch den Arzt will man nicht mehr als souverän in seiner Stellung zum Publikum gelten lassen; man fragt erst so und so viele Verwandte und Bekannte, ehe man seine Anordnungen befolgt. Früher wurde ihm noch eine Ausdrucksform seiner autoritativen Stellung konzediert: die Grobheit. Doch die wirkt jetzt nur noch hie und da bei der Landbevölkerung; in der Stadt soll sich der Arzt höflich, urban benehmen. – In Summa: Man will, beeinflusst durch den Zeitgeist, überhaupt das persönliche autoritative Prinzip im Arzt nicht mehr anerkennen.

Dass einige wenige – meist wissenschaftlich und sozial entgleiste – Ärzte in größeren Städten eine unanständige Reklame betreiben und sich auch sonst nicht gentlemanlike benehmen, hat damit meiner Ansicht nach nichts zu tun. Es wäre ein Wunder, wenn in einer gewissen Summe von Menschen, welche zufällig dem gleichen Stande angehören, sich nicht auch minderwertige Subjekte vorfänden. Sie aus der Gemeinschaft des ärztlichen Standes auszuschließen, wird auch eine der Aufgaben der Ärztekammern sein.

Wenn ich nun auch eine gewisse Verkleinerung der persönlichen autoritativen Wirkungsweise der Ärzte zugegeben habe, so gilt dies eigentlich doch nur ganz in abstracto. Im Einzelfalle stellt sich das – wenigstens bei unserer lebhaft warm- und weichherzigen Bevölkerung – ganz anders heraus, und zwar wiederum zu Ungunsten der Ärzte.

‚Raten Sie mir wie einem Freunde, lieber Doktor!‘ ‚Ich komme zu Ihnen wie zu einem Vater.‘ ,Nur Ihnen vertraue ich; wenn Sie mir nicht helfen, bin ich verloren!‘ Das hört der Arzt immer und immer wieder. Die Angst und die Not machen den modern selbstbewusstesten Menschen mit aller seiner naturwissenschaftlichen Bildung und mit dem dicksten Majoritäts-Ideal vorm Kopf doch wieder zum Autoritätsgläubigen.

Der kranke Mensch will menschlich an seinen Arzt glauben; er will bei uns zu Lande wenigstens nicht die abstrakte medizinische Wissenschaft zu Rate ziehen; er will in das Auge des Arztes blicken, er will seine sympathische Stimme hören, er will seinen warmen Händedruck empfinden.

Darin hat sich bei uns nichts geändert und wird sich auch wohl nichts ändern! Dies führt mich nun, so sonderbar Ihnen dieser Übergang erscheinen mag, auf die materielle Seite des Verhältnisses zwischen Arzt und Publikum, wie es bei uns zurzeit besteht.

Ich bemerke hier gleich ausdrücklich, dass ich in Folgendem nur von den Stadt- und Landärzten spreche, welche von ihrer Praxis leben müssen, nicht von den vom Staat angestellten Ärzten, nicht von den Universitätsprofessoren, welche dadurch, dass sie vom Staate gewissermaßen punziert sind, eine besonders günstige Ausnahmestellung haben.

Für den praktischen Arzt ist das – ich möchte fast sagen – sentimentale Verhältnis zu  seiner Clientel ein gewagtes Hemmnis für seinen Erwerb. Auch ein Advokat kann zu einigen seiner Klienten in ein besonderes freundschaftliches Verhältnis kommen; doch das wird ihn nicht leicht hindern, über jede kürzere oder längere Besprechung, über jeden Besuch, den er im Interesse seines Klienten machte, über jeden Brief, den er im Interesse seiner Sache schrieb, die übliche Rechnung vorzulegen; die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt; man findet das ganz in der Ordnung. – Ganz anders beim Arzt. Der durch den Gedanken, dass er krank sein könnte, schon höchst aufgeregte Patient kommt zum Arzt und schüttet ihm eine halbe Stunde lang sein Herz aus, erzählt ihm eine Menge intime Familienverhältnisse, die gar keine Beziehung zum Gegenstande der Konsultation haben, ja die dem Arzt zu wissen läs­tig sind. Am andern Tage begegnet er dem Arzt auf der Straße und hält ihn wieder mit allerlei Fragen auf. Dann lässt er den Arzt zu sich kommen und wiederholt alles, was er schon oft gesagt hat.

So geht es vielleicht Wochen lang fort; doch es fällt dem Patienten nicht ein, sich zu notieren, wie oft und wie lange er seinen Arzt behelligt hat. Er ist zeitweilig überzeugt, dass er kein ernstes Leiden hat; doch es ist ihm ein Bedürfnis, sich das immer wieder und wieder sagen zu lassen. Endlich fühlt sich der Patient wieder gesund. – Wollte nun der Arzt gleich dem Advokaten mit einer detaillierten, wenn auch noch so mäßigen Rechnung kommen, so würde der Patient wahrscheinlich empört sein über eine solche Unverschämtheit.

,Es war ja nicht der Rede wert, der Doktor hat mir das ja selbst oft genug gesagt; er hat mir in drei Monaten nur vier Rezepte verschrieben. Und dafür diese ellenlange Rechnung! Die Habsüchtigkeit der Ärzte wird immer ärger! Sie können nichts, sie wissen nichts und dafür soll man auch noch bezahlen! Der ärztliche Stand kommt immer mehr und mehr herunter‘ und so fort.

Das sind keine Phantasien von mir, meine Herren, sondern alltägliche Vorkommnisse im Leben des praktischen Arztes. Der Kranke kommt ja zum Arzt, wie zu einem Freunde, wie zu einem Vater, zu einem Priester der Humanität. Ein Freund, ein Vater, ein Priester wird sich doch nichts für einen Rath bezahlen lassen!

Gerade dieser, an und für sich für die Ärzte ja sehr schmeichelhafte Standpunkt unseres Publikums führt nur allzu oft dazu, die Gutherzigkeit und soziale Hilflosigkeit der Ärzte zu missbrauchen. – Freilich gibt es auch Menschen, welche die aufopfernde Arbeit des Arztes nicht nur dankbarst empfinden, sondern sie nach Maßgabe ihrer Mittel materiell belohnen; groß ist die Zahl derselben aber nicht, und doch kann der Arzt nur von ihnen leben. Man denkt wohl, bei einem beschäftigten Arzt wird sich das ausgleichen. Was die Einen zu wenig, geben die Andern überreichlich, – Ja! es gibt auch solche, die in überschwänglich dankbarer Empfindung über das übliche Maß (...) hinausgehen, um ihre Erkenntlichkeit zu betätigen; doch es sind weiße Raben, und die meisten Ärzte müssen oft Jahre lang warten, bis sie einmal einen solchen weißen Raben unter ihren Patienten finden. Es wird für die Zukunft meiner Ansicht nach auch Aufgabe der Ärzte-Kammern sein, direkt oder indirekt auf diese Verhältnisse einzuwirken.

Lassen wir einmal alle Sentimentalität beiseite! Wenn man die Ärzte in die Gesellschaft hinein kategorisieren will, so können sie nur als Gewerbetreibende bezeichnet werden; sie betreiben ein Kunstgewerbe, werden dazu nach abgelegtem Examen vom Staate konzessioniert und wollen von ihrem Erwerb leben. Freilich wäre es sehr schön, wenn alle Ärzte von Hause aus, oder vom Staate oder von den Gemeinden so gestellt wären, dass sie ihr Leben, wenn auch in bescheidenen Verhältnissen fristen könnten, ohne für die Erteilung ihres Rates eine materielle Belohnung nötig zu haben. Doch Sie werden zugeben, dass das aus verschiedenen Gründen eine unrealisierbare Idee ist.

In anderen Ländern, zumal in England, das doch auch ein altes Kulturland ist, dessen Humanitätsinstitute und sanitäre Einrichtungen allen übrigen Staaten ein leuchtendes Vorbild sein sollten, herrscht über das Verhältnis des Arztes zum Publikum schon seit Jahrhunderten eine sehr nüchterne Klarheit – ohne dass das Ansehen des ärztlichen Standes dadurch irgendwie beeinträchtigt würde. – Man behandelt die Angelegenheit als eine rein geschäftliche und begegnet sich dabei gegenseitig mit Wohlwollen und Hochachtung. Von dieser merkwürdigen hochbegabten Nation werden die Staats-Gesetze wohl in Marmor gehauen; doch diese Gesetztafeln werden oft genug zerschlagen, und je nach den veränderten Verhältnissen durch andere ersetzt.

Die Gesetze der Sitten und Gebräuche aber sind aus Erz gegossen, und wer sie zu zertrümmern versucht, der macht nur seine Waffen schartig. Sonst wäre es gar nicht zu begreifen, dass die verschiedenen vom Staate anerkannten Kongregationen von Ärzten in England ohne Kompetenz-Konflikte neben einander bestehen. Die eisernen Fesseln der Sitte machen andere Ärztekammern, als es diese Korporationen eigentlich schon sind, unnötig. Wer Mitglied des königlichen Collegiums der Ärzte oder Mitglied des königlichen Kollegiums der Wundärzte ist – beide stehen im Allgemeinen gleich im Range, nur müssen die Mitglieder des ersteren promovierte Doktoren sein – darf keinen Besuch unter einer Guinée machen. – Die Stadt- und Landärzte bekommen 2–3 Shilling für den Besuch. Beim Pharmacisten kann man sich für einen Shilling Rath erholen. Das Honorar für Besuche in entlegenen Stadtteilen und weiter ins Land ist je nach der Meilenzahl genau für jede Kategorie von Ärzten fixiert; und allgemein bekannt.

Der Arzt darf eigentlich außer bei kranken Kollegen keinen Besuch umsonst machen. Leute, die keine Art von Arzt bezahlen können, finden leicht Rath oder Aufnahme in den unzähligen, vortrefflich eingerichteten kleinen und großen Spitälern Londons und seiner Umgebung. Es ist aber den Ärzten eine Form, durch ihre Arbeit auch materielle Wohltaten zu erweisen, gestattet. Finden sie einen kleinen beschränkten Haushalt vor, so dürfen sie sagen: ,Ich komme wieder‘; das heißt: ,ich verlange für den nächs­ten Besuch kein Honorar.‘ – Die Hausordination, bei der etwas geringere Preise wie bei den Besuchen gemacht werden können, darf nach der Uhr nicht länger als 10 Minuten dauern. Bleibt der Kranke länger, so zahlt er das Doppelte. Immer wird bar gezahlt; so will es die Sitte; so ist es von den verschiedenen ärztlichen Korporationen festgestellt. Wäre nur das Letztere, die Barzahlung, bei uns eingebürgert! Unsere Stadt- und Landärzte würden sich gerne mit geringeren Honoraren begnügen als ihre englischen Kollegen.  (…)

Der wohlwollende und verständige Teil des Publikums achtet, bewundert und bedauert den Arzt zuweilen wegen der vielen, ihn zu keiner Ruhe kommen lassenden körperlichen Beschwerden. Doch wie geistesmüde es macht, und wie es abspannt, den ganzen Tag der Stimmung anderer gefügig sein zu müssen: das weiß nur der, welcher Ähnliches durchgemacht hat. Der beschäftigte Landarzt kann sich unterwegs, wenn er auf seinem Wägelchen durch die frische Luft, zumal in den herrlichen Gegenden unseres Vaterlandes fährt, erholen. Der Stadtarzt läuft den ganzen Tag treppauf treppab und kann sich selten Zeit nehmen zu einer solchen Erfrischung.

Wenn die Professoren ihre Schulmeisterarbeit absolviert haben und dann behaglich sich zu wissenschaftlicher Arbeit setzen, so kann das je nach ihrer Begabung für die Wissenschaft und die Menschheit ja sehr fruchtbringend sein; doch die persönliche Arbeitsleistung ist dabei nicht so ungeheuerlich.

Wenn aber ein beschäftigter Arzt nach kurzer Abendrast in seiner Familie sich in der Nacht hinsetzt und an seiner wissenschaftlichen Fortbildung durch eifriges Studium arbeitet, oder gar selbst in solchen Nächten treffliche wissenschaftliche Arbeiten produziert, – so ist das eine persönliche geistige Leistung, die man gar nicht hoch genug schätzen kann.“

 

Den Worten Theodor Billroths ist wenig hinzuzufügen. Sie stimmen heute immer noch. Leider. Ohne ärztliche Vertretung, ohne Ärztekammer, wäre es noch viel schlimmer.

Der Text der Rede wurde leicht gekürzt unverändert übernommen. Nur die Rechtschreibung ist modernisiert.

 

Fotos: Schiffer, Wikimedia Commons/Montage Conclusio