AERZTE Steiermark 11/2025
Wenn Gewohntes täuscht: Ein unerwartetes „Zebra“ in der Gynäkologie
Mit dem vorliegenden (für die Veröffentlichung gekürzten) Fallbericht gewann Lena Sternad den Raiffeisen-Landesbank Steiermark Turnusärzt:innenpreis 2025.
„Wenn du Hufschläge hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras.“ Dieser Leitsatz erinnert daran, dass häufige Erkrankungen wahrscheinlicher sind als seltene. Für etwa 450.000 Menschen in Österreich ist genau das ein Problem: Sie gehören zu den Zebras, denn sie leiden an seltenen Erkrankungen. Trotz der vielen Herausforderungen, die solche Krankheitsbilder mit sich bringen, ermöglichen sie auch wertvolle Einblicke in die Mechanismen des menschlichen Körpers. Dieser Bericht beleuchtet, wie wichtig der Austausch über seltene Fälle unter Kolleg:innen ist und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können.
Abstract
Niemals hätte ich gedacht, dass ich bereits in meinem ersten Monat als Turnusärztin einem Zebra begegnen würde. Die beschriebenen Symptome der Patientin deuteten zunächst auf eine häufige gynäkologische Erkrankung hin. Doch bereits während der klinischen Untersuchung ergaben sich erste Hinweise, dass sich hinter der scheinbar vertrauten Präsentation etwas Ungewöhnliches verbarg. Dieser Bericht schildert einen Fall, in dem der klinische Verlauf, die diagnostischen Schritte und eine überraschende Wendung eindrücklich zeigen, wie wichtig sorgfältige Differentialdiagnosen, kritisches Abwägen und strukturierte Diagnostik auch bei scheinbar eindeutigen Symptomen sind.
Anamnese: Verdacht auf Mastitis
Eine 70-jährige Patientin stellt sich mit einer Zuweisung ihres Hausarztes aufgrund des Verdachts auf eine linksseitige Mastitis in der gynäkologischen Ambulanz vor. Beschwerden: Seit 3 Wochen bestehende Schmerzen, Schwellung und Rötung der linken Brust. Fieber wird verneint. Letzte Mammographie über 10 Jahre her, Vorerkrankungen: Arterieller Hypertonus und Hypercholesterinämie, Dauermedikation: Tramadol bei chronischen Schmerzen, Amlodipin 10 mg, Amlodipin/Valsartan 5/160 mg sowie Rosuvastatin 20 mg. Voroperationen: Vaginale Hysterektomie bei Hypermenorrhoe, keine familiäre Belastung mit Brust- oder Eierstockkarzinomen.
Klinische Untersuchung: Zwischen Routine und Alarmzeichen
Inspektorisch zeigt sich die linke Brust diffus gerötet, mit einem flächigen Cutisödem, dessen Punctum maximum im Bereich des linken Mamillen-Areola-Komplexes liegt. Der zugehörige Lymphknoten ebenfalls gerötet und erhaben.
Die rechte Brust präsentiert sich inspektorisch unauffällig. Palpatorisch erscheint die linke Brust insgesamt fest, mit einem derben Knoten von mindestens 3 cm im oberen äußeren Quadranten. Die rechte Brust ist palpatorisch unauffällig. Axillär links lassen sich mehrere derbe Resistenzen tasten, die am ehesten vergrößerten Lymphknoten entsprechen. Rechts findet sich kein pathologischer Tastbefund.
Labor: Unspezifische Reaktionszeichen
Im durchgeführten Routinelabor zeigten sich die Leukozyten mit 13,22 × 109/l leicht erhöht, bei einer marginalen Dominanz der Neutrophilen von 10,28 × 109/l, während die Lymphozyten mit 1,0 × 109/l leicht erniedrigt waren. Erythrozyten (3,36 × 1012/l) und Hämoglobin (11,4 g/dl) lagen geringfügig unter dem Normbereich, MCV (103,0 fL) und MCH (33,9 pg) waren leicht erhöht, was auf eine milde makrozytäre Anämie hinweist. Das CRP war mit 177,6 mg/l deutlich erhöht.
Interpretation der Befunde
In Zusammenschau der laborchemischen Ergebnisse spiegeln diese einen unspezifischen Reaktionsprozess wider. In der gynäkologischen Ambulanz ließ sich eine akute bakterielle Mastitis aufgrund des fehlenden Fiebers, der nur leicht erhöhten Leukozyten und des suspekten palpatorischen Befundes nicht eindeutig bestätigen. Daher wurde zur weiteren Abklärung eine bildgebende Untersuchung veranlasst.
Bildgebung: Verdacht auf Malignom
Die Sonografie der linken Mamma zeigte eine deutliche Verdickung der Mamille und der Cutis. Die Brustdrüsenkörper nahezu in allen Segmenten infiltriert. Multiple, unscharf begrenzte, hypodense Herdbefunde von bis zu 1,6 cm Größe, mit dem Punctum maximum retromamillär und im oberen äußeren Quadranten. Axillär ein 3,3 cm großer pathologischer Lymphknoten. Aufgrund dieser Befunde wurde die Läsion als BI-RADS 5 klassifiziert, was eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine maligne Erkrankung nahelegt und eine histologische Abklärung erforderlich machte.
Histopathologische Diagnose: Das unerwartete Zebra
Nach Durchführung einer stanzbioptischen Untersuchung konnte das suspekte Gewebe zur histopathologischen Analyse eingesandt werden. Unerwarteterweise bestätigte sich damit jedoch nicht der naheliegende Verdacht eines Mammakarzinoms, sondern ein extrem seltenes Krankheitsbild: ein primär diffus großzelliges B-Zell-Lymphom (DLBCL) der Brust. Diese Diagnose stellt eine absolute Rarität dar und hat unmittelbare Konsequenzen für das weitere Vorgehen, da die Therapie sich fundamental von jener des Mammakarzinoms unterscheidet.
Die Lehre aus dem Zebra
Seltene Erkrankungen können sich hinter Symptomen verbergen, die zunächst auf häufige Diagnosen hinweisen. Für Ärzt:innen in Ausbildung ist dies besonders lehrreich: Vertraute Symptome schließen seltene Ursachen nicht aus. In diesem Fall ermöglichte eine konsequent strukturierte Vorgehensweise – Anamnese, Labor, gezielte Bildgebung und Biopsie – die Identifikation eines primären Brust-DLBCL, einer extrem seltenen Diagnose.
Bereits kleine untypische Hinweise im klinischen Verlauf können als Warnsignale dienen: Eine 70-jährige Patientin mit vermeintlicher Mastitis oder eine innerhalb von nur wenigen Wochen palpabel gewordene Raumforderung, wie man sie bei einem Mammakarzinom eher nicht erwarten würde, rechtfertigen eine gezielte Abklärung. Auch wenn Häufiges häufig und Seltenes selten ist, sollten ungewöhnliche Verläufe ernst genommen werden. Klinische Aufmerksamkeit und systematisches Denken sind entscheidend, um selbst in alltäglichen Fällen relevante, seltene Diagnosen zu erkennen.
Foto: Schiffer